DER TransPrivacy Blog

mit Texte, Schriften und Kommentare von Bloggern und Autoren zum Projekt

18.11.2011
21:29

Alles neu per Netz?

Das TransPrivacy-Projekt geht in die Schlussphase, das letzte Plakatrelease mit Arbeiten von Eva und Franco Mattes, Timothy Shearer und Julia Scher ist raus und nun folgen auch hier im Blog die letzten Beiträge.

Der heutige Beitrag kommt vom Schriftsteller und Blogger Hartmut Finkeldey aus dem Norden der Republik. Im Netz ist er seit einigen Jahren unter kritik-und-kunst aktiv, im Printbereich hat er gerade sein Debut hingelegt. Unter dem Titel 'Ostseeripper' hat Finkeldey just seinen bürgerlichen Kriminalroman publiziert. Um so erfreulicher, dass er dennoch die Zeit gefunden hat zum TransPrivacy-Projekt einen Beitrag zu liefern.

Hartmut Finkeldey gibt sich dabei alle Mühe die gängigen utopisch ausgeschmückten Mythen der Netzpolitik zu hinterfragen und zu demontieren. Ein Unterfangen welches Angesichts des aktuellen lautstarken und unüberhörbaren Schweigens der netzpolitischen Eliten in Bezug auf die  postdemokratischen Strömungen allerhöchste Anerkennung verdient.

Denn es steht völlig außer Frage, wenn eine Politik mit Netz in irgendeiner Weise erfolgreicher sein soll, als Politik zuvor, dann nur, wenn die notwendige historische Kontextualisierung gelingt.

Und nun Bühne frei für Hartmut Finkeldey. 
(Man verzeihe mir bitte diesen reimenden Kalauer, er kam spontan.)

Alles neu per Netz? 

ein Gastbeitrag von Hartmut Finkeldey

Was ändert sich eigentlich durch das Netz? Welch neuer Umgang miteinander, welch neuartiger Austausch mit der Welt wird durch das Netz inauguriert? Ich rede nicht von Problemen wie Datenschutz und Datenkrake, Mobbing, Stalking, Spin-Doctors oder sinistren Diensten - auch, wenn diese Fragen politisch letztlich viel brisanter und relevanter sind.
Ich rede von der „Schwarmintelligenz“, die sich angeblich erst im Netz Geltung verschafft habe, rede von der „neuen Demokratie“ im Netz 2.0 (3.0, 4.0,...?), von Subjektivität und Subjektlosigkeit, vom Recht auf Privatheit und einer (unvermeidlichen?) Entprivatisierung, die dem Netz vorgeblich eignen soll. Vor aller Philosophie gefragt: Wer ist überhaupt aktiv im Netz? Jemand, der uns in seinem Privatblog mitteilt, dass er in Valencia einen wunderschönen Urlaub verbracht hat, nur die Paella im Restaurant zweite Querstraße links war ungenießbar? Werde ich Nicht-Promi „entprivatisiert“, wenn man auf www.irgendeinekleinefirma.de unter „Team“ herausfinden kann, was ich so mache? Wer googelt mich schon... Wenn ich als User „hochbegabt“ im Forum xyz mit dem User „truebetasse78“ diskutiere und ihn einen Idioten nenne – wen beleidige ich dann? „truebetasse78“ oder Horst-Hans Schmitz, der dahinter steht? Und „neue Demokratie im Netz“? Wer generiert eigentlich mehr Klicks? Roberto de Lapuentes Blog ad sinistram...oder BILD, wenn dort die weltbewegende Frage verhandelt wird, ob der „Star“ xyz sich nackt auf der Alm hat zeigen dürfen? Was hat sich geändert durch das Netz – wenn sich etwas geändert hat?


Kurz gesagt: Es geht um jenes kulturelle Grundrauschen der „Generation Piratenpartei“, für die die grundlegenden Änderungen, welche das Netz hervorrufen soll, eine ausgemachte Tatsache sind. Nicht dass das Netz alle Verhältnisse umkrempele, Privatheit und Selbst, Öffentlichkeit und Diskurse völlig neu oganisiere, völlig neue Formen demokratischer Teilhabe ermögliche, wird noch diskutiert – die Tatsache als solche gilt als trivial -, sondern allemal noch das „wie“. Ich will im Folgenden zeigen, wie wenig fundiert solche en vogue Ansichten letztlich sind, wie wenig es erfordert, sie zu widerlegen. Wie beharrlich, entkleidet man sie aller vordergründigen Unterschiede, verschiedene kulturelle und Schriftsysteme sich immer wieder identisch organisieren.
Kurz: ich will zeigen, dass im Netz stattfindet, was in den Höhlen von Lascaux, auf Tontäfelchen in Keilschrift, auf Papyrus, auf beweglichen Lettern, per Mergenthaler, per Samuel Morse, auf Vinyl und im Taschenbuch immer auch schon statt hatte: Im Netz werden gute und nicht ganz so gute Gedichte geschrieben, gibt es Loyalität und Illoyalität,  Mobbing und Diskurs, demokratische Diskussionskultur und Autoritarismus, Macht und Ohnmacht. Das Netz dokumentiert also in etwa die menschlichen Angelegenheiten, die sich auch in Keilschrift im Gilgamesch-Epos nieder geschlagen haben.
Und ich will zeigen, dass die historischen Argumente, die hier bemüht werden, damit sich eine „entscheidende Transformation durch das Netz“ aufweisen lässt, so einfach nicht treffen. 


Unstreitig ist dabei, dass das, was man grob „Netz-Philosophie“ der „Generation Piratenpartei“ nennen könnte – kein „abgeschlossenes Vokabular“ (Rorty), ein prinzipiell „unendliches Sprechen“ (Foucault), multiple Identitäten im Netz, subjektloses Sprechen, der eine große, dynamische Textcorpus namens „Netz“ - , deutliche Anleihen bei der postmodernen Philosophie aufgenommen hat oder letztlich schlicht aus postmodernen Ansätzen besteht. Bereits mit diesem dürren Hinweis hätte sich die Frage nach den substanziellen Neuerungen erledigt, für die das Netz ursächlich sein soll, denn unbezweifelbar hat sich die Postmoderne Jahrzehnte vor dem Netz formiert, wenn sie nicht überhaupt als einziger Kommentar zu den romantischen Paradigmen, zu Nietzsche und Heidegger gelten kann.
Multiple Selbigkeiten, die Phrase vom „sich ständig neu erfinden“ (ich halte aus mehr als nur einem Grund nicht gar soviel von dieser Phrase, aber das gehört nicht hierher), „Ich ist ein Anderer“...das alles ist schon auf der schieren Faktenebene weit älter als das Netz. 


Es kommt aber noch schlimmer. Die Romantik, und ihre Zuspitzung, ihre Beschleunigung, also Nietzsche, dann Heidegger, kann man noch, gut begründet, als Reaktion auf die Moderne deuten. Als Reaktion auf das beginnende Zeitalter der Massenmedien, der Mechanik, der Gleichzeitigkeit, auf James Watt, Otmar Mergenthaler, Samuel Morse, Marconi, die Gebrüder Wright. Und so kulminiere im „Netz“, was mit der Romantik begonnen habe: Die ironische Desavouierung. Der romantische Protest gegen die Entzauberung der Welt beginnt bekanntlich um 1750 mit Rousseau und dem deutschen Sturm und Drang. Romantisieren heiße dabei, so Novalis, „dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein geben“.
Kurz gesagt: Die Romantik, so scheint es, eröffnet als Reaktion auf die vorgebliche Monotonie, die vorgebliche Seelenlosigkeit der Moderne jenes Selbstverständnis urbaner bürgerlicher Intellektueller, das wir unter „Selbsterschaffung“, „spielerische Gebrochenheit“, „Kritik“ und „Ironie“ zusammen fassen können. Und dieser Ansatz, so könnten die Netz-Philosophen ihre Apologie betreiben, kulminiere nunmehr im Netz. Erst das Netz sei das angemessene Medium für die Rösselsprünge, aus denen das postmoderne Selbstverständnis bestehe. Die romantisch-postmodernen Rösselsprünge, das Fragmentarische, Offene, hätten sich erst durch das Netz Geltung verschaffen können.


Das ist so schon mal fragwürdig, wenn wir daran denken, dass die romantische Bewegung, und mit ihr das Selbstverständnis bürgerlicher Intellektueller, inzwischen mehrere hundert Jahre alt ist. Dazu kommt: Philosophiegeschichtlich ist auch der Versuch, die Vorboten der Postmoderne zeitlich der beginnenden Industrialisierung bei zu gesellen, mehr als problematisch. Denn in der Philosophiegeschichte ist es inzwischen unstreitig, wie massiv sich das, was wir im Weitesten  als „postmoderne Ansätze“ bezeichnen würden – eben: Dezentrierung, disparate Perspektiven, Lob der Kontingenz, Primat der Kunst (Kenntnis) vor der Wissenschaft (Erkenntnis), Moralkritik, Machtkritik - bereits in den Konzepten der Sophisten nachweisen lassen. Am sinnfälligsten in Protagoras´ berühmtem Diktum, es gäbe „den“ Logos nicht, es gäbe nur Logoi, in Gorgias These vom Nicht-Seienden, oder in ihrer Machtkritik. Auf den Punkt gebracht: Die Postmoderne und damit der moderne, romantische Intellektuelle sind letztlich 2500 Jahre alt, darum geht es. Nebenbei bemerkt: Auch das schillernde, unklare Hin-und-her zwischen Kritik und Affirmation, welches postmodernen Ansätzen ja so häufig eignet, ist 2500 Jahre alt. Ich komme darauf zurück.


Interessanterweise war es ausgerechnet Hegel, dem die opake, aber interessante Rolle der Sophisten früh klar war. In seiner Philosophiegeschichte hat er für eine umfassende Neubewertung der Sophisten plädiert. Zunächst konstatiert er grundlegend: „Das Denken ist (für die Philosophen dieser Epoche, also für die Sophisten wie für Sokrates!, hf) subjektive Tätigkeit; so tritt Zeitalter der subjektiven Reflexion ein, Setzen des Absoluten als Subjekts (sic). Das Prinzip der modernen Zeit beginnt in dieser Periode (...)“ (Hegel, Werke XVIII, p. 404) Natürlich wird Hegel die sophistischen Ansätze, etwa ihr Lob der Kontingenz, ihre Destruktion des Wahrheitsbegriffs, seinerseits unterlaufen und zurückweisen. Aber das Plato-Aristotelische Philosophie-Marketing, der Sophistik einen „schlimmen Ruf“ zu unterstellen, in ihr nichts anderes sehen zu können als „willkürlicherweise durch falsche Gründe“ Wahres widerlegt, Falsches plausibel gemacht zu haben...“(...) (d)iesen schlimmen Sinn haben wir auf die Seite zu stellen und zu vergessen“ (Hegel, aaO, p. 408-409). Hegels Darstellung der sophistischen Konzepte, nur vordergründig kann das überraschen, ist zunächst ein einziges Lob: Lob ihrer Machtkritik, die – und hier hat Hegel zumindest implizit das zentrale Problem aller kritischen Philosophie dargestellt – nur allzu leicht zur affirmativ genutzten Machttechnik mutiert (vereinfacht gesprochen: jeder Spin-Doctor, jeder PR-Berater sollte Adorno, sollte Foucault gelesen haben...).
Und vor allem, grundlegend, Lob ihres Verständnisses von Subjektivität. Nicht mehr Tradition, sondern Reflexion soll uns unserer Handlunsgründe versichern. Das sei das spezifisch Moderne am sophistischen Ansatz: „Den hauptsatz seines Wissens sprach er nun aber so aus: ´Von allen Dingen ist das maß der Mensch,; von dem, was ist, daß es ist – von dem was nicht ist, was es nicht ist.´ Dies ist ein großer Satz.“ (Hegel, p. 429) Und auch, wenn Hegel an den Sophisten dann natürlich Kontingenz, Partikularität, „schlechten Sinn“ kritisieren wird... mit den Sophisten, nicht mit ihrem berühmten Kritiker, beginnt nach Hegel letztlich die Moderne, sie verorten alle entscheidenden Fragen im Subjekt. 


Im Kern, im Keim, wenn auch embryonal, findet sich bei Protagoras nach Hegel also bereits alles, was das moderne Problem der Subjektivität ausmacht. Und wenn wir diese geschichtliche Sicht einmal mitmachen – ich wüsste nicht, was uns daran hindern sollte -, so kann keine Rede davon sein, dass sich im Netz in irgend einer Form neue Strukturen von Subjektivität und Subjektlosigkeit etabliert haben. Denn diese Strukturen sind mindestens 2500 Jahre alt.


Dies gilt allemal für jenes immer schon schwierige Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit. Zweifellos beschleunigt das Netz jede Form von Austausch. Indessen: Wenn ich auf eine Papyrus-Rolle ein Gedicht oder eine Denunziation notiere und sie öffentlich auslege, oder ein Theaterstück schreibe und es öffentlich aufführe, so wende ich mich prinzipiell auch an „jeden“, und zwar in den Medien, die damals eben zur Verfügung standen.
So etwa Seneca in seiner „Verkürbissung des Kaisers Claudius“, Aristophanes in den „Wolken“. Beide verletzen, beide stellen bloß. Und beide bedienen bereits – anders ergäbe sich in ihren Texten kein Sinn – die „Öffentlichkeit“, machen Gebrauch vom Begriff einer „öffentlichen Person“, also auch von dem, was man „öffentliche Bedeutung“ nennen könnte. Nicht jeder Athener, der über Aristophanes Witze gelacht hat, wusste genau, was es mit Sokrates und seinen Konzepten auf sich hat. Aber jeder wird in irgend einer Form ein Bild von Sokrates im Kopf gehabt, wird Sokrates´ Ruf gekannt haben, also Gerüchte über die Person Sokrates. Aristophanes Verwendung der öffentlichen Person „Sokrates“, die mit Sokrates natürlich keineswegs identisch sein muss, belegt: Sokrates war ein Medienstar, die Athener Gesellschaft eine Mediengesellschaft.
Nicht nur die Postmoderne, auch die Mediengesellschaft ist somit mindestens 2500 Jahre alt. Und so kann ich ironisch folgern: das Netz ist 2500 Jahre alt. Ich wüsste wirklich nicht, wo – von der Art der technischen Realisierung abgesehen – sich im heutigen Netzgebahren der Userinnen und User irgend etwas substanziell geändert haben sollte. Auch im Netz findet sich, was sich auf Papyrus fand: Großartige Literatur und Häme, Liebesschwur und schenkelklopfender Humor auf Kosten Schwächerer, Loyalität und Hinterfotzigkeit. So what! 


Nun mag man einwenden, ich unterschlüge einen wesentlichen Aspekt: Nur das Netz hebe Anonymität prinzipiell auf, erst im Netz sei einer prinzipiell offen. Aber Vorsicht! Auch diese Sicht muss man nur bestreiten, um sie zu widerlegen. Zunächst einmal ist es im Netz genau so wie mit den berühmten Graffitis in Pompeji: ich selber entscheide, Anonymitäten, die eigene wie die fremde, aufzuheben oder zu belassen.
Ferner: Peter Bierbichler aus Klein-Iffetsheim mag die Sandra Vollmöller wirklich auf youtube gemobbt haben. Was aber unterscheidet die „Öffentlichkeit“, die Peter Bierbichler mit Hilfe youtubes herstellt, von derjenigen, die in Pompeji per Graffiti hergestellt wurde? Der Hinweis, im Netz würde aber prinzipiell „die ganze Welt“ Zeuge, verficht nicht. Zunächst einmal: Nicht die ganze Welt, sondern lediglich die mit Online-Zugang. Sodann: Nicht die Online-Welt sondern nur die, die nach Sandra Vollmöller in Klein-Iffetsheim googled. Ferner: in Pompeji waren die Grenzen der Stadt die Grenzen meiner Welt. Pompeji war „die Welt“, und die Graffitis richteten sich damals so gut an „die“ Welt wie youtube heute (auch in Pompeji gab es natürlich Beschränkungen des „Online-Zugangs“, und zwar in Form von Analphabetismus).
Diese Graffitis sind aber auch ganz grundsätzlich interessant. Wir können sie regelrecht als antiken Chatroom verstehen. Rebecca Benefiel spricht jedenfalls, und m.E. völlig zu Recht,  von „interaktiver Kommunikation“, die dort statt fand - etwa wenn ein „Secundus“ und eine „Liva“ öffentliche Liebesschwüre austauschten, also die Welt teilhaben ließen an ihrem Glück. Und die „Welt“ Secundus´ und Livas´ bestand eben aus Pompeji, der öffentliche Raum aus den Pompejier Mauern.
Exhibitionismus und Scheu als die Pole, in denen Menschen sich offenbaren, scheinen ebenfalls einige 1000 Jahre alt zu sein. Alles neu, alles anders im Netz? Wo denn? Wie denn? 


Werden wir bei den vor etwas über einem Jahrzehnt vielbeschworenen „virtuellen Welten“ fündig? Verbürgt die Digitalisierung der Welt nicht auch ihre Derealisierung, Offenheit, multiple Blicke? Ich bitte fast um Entschuldigung, aber die Diskussion von virtual reality kann ich wirklich kurz halten.
Ich bin Schriftsteller. Thomas Manns Zauberberg ist eine virtuelle Welt, Grimmelshausens Leiden einer getreuen Sackpfeif´ findet in einer statt, und wie viele virtuelle Welten es in der Bibel gibt, habe ich jetzt nicht gezählt. Ein weiteres Mal sorry, aber es fällt mir wirklich schwer, Thesen von der Art, erst per Digitalisierung, erst per binärer Codierung sei so etwas wie Virtualität erschaffen worden, auch nur Ernst zu nehmen. Ich hoffe, man hat mein etwas spöttisches Kichern jetzt nicht allzu laut gehört...


Der lautstärkste Mythos der Alles-neu-per-Netz-Fraktion aber ist die Netzdemokratie, die öffentliche Teilhabe aller, die das Netz nunmehr verbürge. Also das „Web 2.0“, obwohl das inzwischen ja auch schon etwas in die Jahre gekommen ist. Die neue, subjektlose, jederzeit dynamische Schwarm-Intelligenz des Netzes eröffne ganz neue Demokratie-Chancen. Ich habe Probleme damit, diesen Ansatz auch nur zu verstehen. Die derzeitige Netz-Praxis gibt ihn jedenfalls nicht her. Das ganze Wikileaks-Desaster belegt das – und mit „Desaster“ meine ich jetzt nicht Assanges Persönlichkeit, zu der ich mich nicht äußern kann. Mit „Desaster“ meine ich vielmehr Folgendes: Was haben die selbstverständlich begrüßenswerten Publikationen Wikileaks politisch bewirkt? In etwa das, was Printveröffentlichungen, zum Beispiel über internationalen Waffenhandel in der Reihe rororo-aktuell, jahrzehntelang bewirkt haben: Nämlich nicht allzu viel. Eine Minderheit weiß Bescheid, die Mehrheit will nicht wissen, darf nicht wissen, kann es vielleicht auch gar nicht. Konsaliks Auflage war immer höher als diejenige der rororo-aktuell-Reihe. So, wie Bohlens Klickrate diejenige der Wikileaks (aus Deutschland) immer toppen wird. Romantisch-postmoderne Intellektuelle, die wir sind (wir = diejenigen, die Essays wie diesen hier überhaupt lesen), machen wir uns von der Reichweite unserer Argumente völlig falsche Vorstellungen.
Dass Dank diverser Whistleblower jener entsetzliche Video-Clip öffentlich wurde, der zeigt, wie im Irak Zivilisten getötet werden („Engage! Engage!“), interessiert die Mehrheit sowenig, wie sie sich in Prä-Netz-Zeiten für die Hintergründe von Costa-Gavras „Missing“ interessierte. „Missing“ ist ein Film – der Netz-Generation muss man das wohl erklären! -, der den Pinochet-Putsch und die Rolle diverser US-Dienste dabei thematisierte. Er ist authentisch, gewann die goldene Palme und kann problemlos alle paar Jahre in allen dritten Programmen ausgestrahlt werden.
Message understood?


Wer „alles neu per Netz“ glaubt, dem mangelt es in meinen Augen einfach an historischem Sinn. Auf Friedrich Kittler sollte man sich dabei übrigens besser nicht berufen. Worauf ich mit meinen historischen Etüden hinaus will, drückt er kurz und knapp so aus: „(...)daß Prometheus überhaupt den Plan fassen konnte, Menschen nach seinem Bilde zu formen, gehorchte aller behaupteten Selbständigkeit zum Trotz einem Gotteswort. Die Auflehnung gegen Zeus schuf Herrndiskurse und Befehlsketten nicht ab. (meine Hervorhebung)“ (Kittler, Fiktion und Simulatio , in Aisthesis p. 199) So ist es! 


Für mich folgt aus all diesen Beobachtungen etwas sehr banales und vermutlich auch unattraktives: Im Netz gilt, was auf beweglichen Lettern, auf Papyrus, auf Tontäfelchen auch schon galt: Es sind unaufhebbar wir und unsere Praxis, die agieren. Die Verantwortung für unsere Praxis sollten wir nicht an Anonyma delegieren, nicht an „die Sprache“, nicht an „Strukturen“, auch nicht an „das Netz“, und könnten das auch gar nicht, selbst wenn wir wollten. „Das Netz“ kann nicht handeln, denn „das“ Netz existiert gar nicht.
Niemand kann uns das Handeln abnehmen. Und bei Licht besehen ist diese Botschaft gar nicht so pessimistisch. 

Woher dann aber der Glaube daran, das Netz mache „alles neu“?
Ein letztes Mal kehren wir zum romantisch-postmodernen Intellektuellen zurück. Es ist der Traum von Erneuerung, der Traum, ein mal, dieses eine Mal sich dem Rad in die Speichen zu werfen. Einmal authentisch sein, einmal ganz da sein, ohne Gegengründe, Kompromisse, Ironismen, Spiel, postmoderne Behaglichkeit/Beliebigkeit... Einmal bei einer entscheidenden Weichenstellung dabei sein!

Ich werfe der alles-neu-per-netz-Fraktion diesen Traum nicht vor. Aber ich fürchte, sie analysiert hier falsch. Das hat etwas mit ihren philosophischen Grundlagen, nämlich der Postmoderne, zu tun, die sie nicht preisgeben mag. Sich einmal festlegen bedeutet, sich auf Dingliches einzulassen. Auf harte Fakten. Aber gerade die Postmoderne verweigert sich ja dem Eindeutigen. Vom künstlerischen Standpunkt aus ist das in der Tat die einzig mögliche Haltung, Kunst lebt von Verschiebungen und Brechungen, die Vieldeutigkeit ist sozusagen ihr Job.
Aber es gibt, mit Respekt, ein Leben neben der Kunst, neben der ironisch gebrochenen Selbsterschaffung einer dünnen bildungsprivilegierten Schicht, und wer Dinglichkeit für sich in Anspruch nimmt, muss sich schon entscheiden. Postmoderne bedeutet: Brillante Analysen, hochinteressante Ansätze zu einer „Mikrophysik der Macht“ (Foucault) – neben peinlich-beliebiger Mickey-Mouse-Philosophie, die dann in ihrem größten Fehler, der Preisgabe der Kategorie „Tatsache“, endet. Wenn alles bloß virtuell ist, alles bloß Zeichen, alles bloß Struktur, alles letztlich nur noch Signifikant, dann gibt es keine Dinglichkeit mehr. Und das bedeutet: dann gibt es keine Ausbeutung, keinen Waffenhandel, keine Hierarchien mehr – jedenfalls nicht ohne relativierende Anführungszeichen, nicht ohne Brechungen. Dann reduzieren sich auch Kindersoldaten auf bloße Zeichen. Es gibt aber Kindersoldaten, ich will es verraten, es gibt sie konkret.

Bis heute reagieren alle Adepten der Postmoderne aggressiv auf SOKALs genialen Spaß; nebenbei: ein deutliches Zeichen dafür, dass SOKAL ins Schwarze getroffen hat. Was viele nicht sehen: dass SOKAL die Postmoderne eben von links kritisiert hat, indem er auf der Kategorie „Tatsache“ beharrte. Das Dingliche, das Konkrete und Vexierspiele im Virtuellen schließen sich nun einmal aus. Die Netzgemeinde, als Teil der Postmoderne, wiederholt den Fehler aller postmodernen Versuche, wenn sie ihre hochinteressanten Ansätze als Engagement missversteht. Genau hier sehe ich den Grund dafür, dass postmoderne Ansätze politisch beständig scheitern. Sie will das Engagement, ist aber nicht bereit, den Preis zu entrichten.
Wenn die Netzgemeinde und ihr neuester Ableger, die Occupy-Bewegung, im Prinzip mit jedem reden will, auch mit Herrn Ackermann, weil „das Netz“ ja aufgrund seiner Struktur quasi automatisch eine herrschaftsfreie Unterredung herstelle, dann muss man kein orthodoxer Marxist sein, um die Hände überm Kopf zusammen zu schlagen. Es gibt keine herrschaftsfreie Zone im Kapitalismus. Und in einem vom Kapitalismus organisierten und strukturierten Netz schon mal gar nicht.

„Das Netz“, um dieses hochproblematische Subjekt einmal in den Mund zu nehmen, also die Generation Piratenpartei, muss anfangen, die Machtfrage zu stellen. Ihre Gegner, die Gegner einer freien und sozialen Gesellschaft, tun es längst!

Literatur:

Barck, K.H/Gente,P./Paris,H./Richter,St. (Herausgeber/innen), Aisthesis, Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, darin p. 196-213 Friedrich Kittlers Aufsatz, auch ansonsten regelrecht so etwas wie eine „Einführung in die Postmoderne per Essays, per Diskussion“, also angemessen. Ausgesprochen lesenswert. Mit Beiträgen von Virilo, Deleuze, Foucault, Kittler, Baudrillard, Barthes, Bob Wilson etcetc, Derrida fehlt allerdings.

Hegel, G.W.F., Geschichte der Philosophie, Band 1, in: Hegel, Werke XVIII (Moldenhauer/Michel), Frankfurt/Main 1971 u.ö., muss ich nicht kommentieren

Hobsbawm, Eric, Europäische Revolutionen 1789 - 1848, Köln 2004 (Reprint der 1966er Ausgabe), etwas zu kritische Anmerkungen über die europäische Romantik, in der er allerdings, Jahrzehnte vor Safranski und in Widerspruch zu ihm, zu Recht ein gesamteuropäisches Ereignis sieht. Dort p. 503 auch das Novalis-Zitat, von dem ich hoffe, dass es stimmt... Wunderbare Sichtung eines der formierendsten Epochen Europas durch einen frei denkenden, unorthodoxen Kommunisten. Ich liebe und verehre ihn sehr. Wird man ja wohl noch mal sagen dürfen, oder, Tilo? 

Taureck, Bernard, Die Sophisten, Lizenzausgabe der Junius-Ausgabe durch Panorama, oJ, gewichtige Studie über die Sophisten. Rehabilitierend. Habe damals bei Taureck die Vorlesungen gehört, aus denen sein vielleicht berühmtestes Buch – das über die französische Philosophie im 20. Jahrhundert – wurde. Damals war ich wilder Analytiker (immer das lieben, wovon man nichts versteht) und er also mein Gegner, aber der Mann hatte was los! Unvergesslich: „Ich habe jetzt eine Vorlesung über das innere Zeitbewusstsein bei Husserl pünktlich beendet. Das macht mich schwermütig!“

Zu SOKAL vergl (gute Zusammenfassung) den Wiki-Eintrag http://de.wikipedia.org/wiki/Sokal-Aff%C3%A4re

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  • 8 Kommentar(e)
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Gravatar: BeateBeate
19.11.2011
22:10

Sehr schade, dass der Artikel kaum lesbar ist. Die Formatierung ist eine Katastrophe.

Gravatar: fkfk
19.11.2011
22:38

danke für den hinweis. ich habe die schriftgröße mal hochgesetzt und den zeilenabstand etwas vergrößert. jetzt ist es etwas besser finde ich. hgfk

Gravatar: Hartmt FinkeldeyHartmt Finkeldey
20.11.2011
00:25

Ich bitte die geneigten Leser um Enschuldigung; in den letzten Tagen hatte ich, wie wohl alle, Anlaß, verstört zu sein. Speziell die letzten Passagen sind gehetzt geschrieben, arg verkürzt und können den Ansprüchen, die hier zu stellen sind, kaum genügen. In ein Buch würde man jetzt einen Errata-Zettel einlegen oder die Sache in der zweiten Auflage korrigieren. Im Netz ist das technisch einfacher zu realisieren. Korrige ab "Woher dann der Glaube...": Woher dann aber der Glaube daran, das Netz mache „alles neu“? Ein letztes Mal kehren wir zum romantisch-postmodernen Intellektuellen zurück. Es ist der Traum von Erneuerung, der Traum, ein mal, dieses eine Mal sich dem Rad in die Speichen zu werfen. Einmal authentisch sein, einmal ganz da sein, ohne Gegengründe, Kompromisse, Ironismen, Spiel, postmoderne Behaglichkeit/Beliebigkeit... Einmal bei einer entscheidenden Weichenstellung dabei sein! Ich werfe der alles-neu-per-netz-Fraktion diesen Traum nicht vor. Aber ich fürchte, sie analysiert hier falsch. Das hat etwas mit ihren philosophischen Grundlagen, nämlich der Postmoderne, zu tun, die sie nicht preisgeben mag. Sich einmal festlegen bedeutet, sich auf Dingliches einzulassen. Auf harte Fakten. Aber gerade die Postmoderne verweigert sich ja dem Eindeutigen. Vom künstlerischen Standpunkt aus ist das in der Tat die einzig mögliche Haltung, Kunst lebt von Verschiebungen und Brechungen, die Vieldeutigkeit ist sozusagen ihr Job. Aber es gibt, mit Respekt, ein Leben neben der Kunst, neben der ironisch gebrochenen Selbsterschaffung einer dünnen bildungsprivilegierten Schicht, und wer Dinglichkeit für sich in Anspruch nimmt, muss sich schon entscheiden. Postmoderne bedeutet: Brillante Analysen, hochinteressante Ansätze zu einer „Mikrophysik der Macht“ (Foucault) – neben peinlich-beliebiger Mickey-Mouse-Philosophie, die dann in ihrem größten Fehler, der Preisgabe der Kategorie „Tatsache“, endet. Wenn alles bloß virtuell ist, alles bloß Zeichen, alles bloß Struktur, alles letztlich nur noch Signifikant, dann gibt es keine Dinglichkeit mehr. Und das bedeutet: dann gibt es keine Ausbeutung, keinen Waffenhandel, keine Hierarchien mehr – jedenfalls nicht ohne relativierende Anführungszeichen, nicht ohne Brechungen. Dann reduzieren sich auch Kindersoldaten auf bloße Zeichen. Es gibt aber Kindersoldaten, ich will es verraten, es gibt sie konkret. Bis heute reagieren alle Adepten der Postmoderne aggressiv auf SOKALs genialen Spaß; nebenbei: ein deutliches Zeichen dafür, dass SOKAL ins Schwarze getroffen hat. Was viele nicht sehen: dass SOKAL die Postmoderne eben von links kritisiert hat, indem er auf der Kategorie „Tatsache“ beharrte. Das Dingliche, das Konkrete und Vexierspiele im Virtuellen schließen sich nun einmal aus. Die Netzgemeinde, als Teil der Postmoderne, wiederholt den Fehler aller postmodernen Versuche, wenn sie ihre hochinteressanten Ansätze als Engagement missversteht. Genau hier sehe ich den Grund dafür, dass postmoderne Ansätze politisch beständig scheitern. Sie will das Engagement, ist aber nicht bereit, den Preis zu entrichten. Wenn die Netzgemeinde und ihr neuester Ableger, die Occupy-Bewegung, im Prinzip mit jedem reden will, auch mit Herrn Ackermann, weil „das Netz“ ja aufgrund seiner Struktur quasi automatisch eine herrschaftsfreie Unterredung herstelle, dann muss man kein orthodoxer Marxist sein, um die Hände überm Kopf zusammen zu schlagen. Es gibt keine herrschaftsfreie Zone im Kapitalismus. Und in einem vom Kapitalismus organisierten und strukturierten Netz schon mal gar nicht. „Das Netz“, um dieses hochproblematische Subjekt einmal in den Mund zu nehmen, also die Generation Piratenpartei, muss anfangen, die Machtfrage zu stellen. Ihre Gegner, die Gegner einer freien und sozialen Gesellschaft, tun es längst!

Gravatar: fkfk
23.11.2011
13:08

ich habe den eintrag korrigiert und die von dir hier nachgefügte passage jetzt anstelle der alten eingefügt. hgfk

Gravatar: Tom BerlinWarriorTom BerlinWarrior
05.12.2011
10:36

»Woher dann aber der Glaube daran, das Netz mache „alles neu“? « Sehr schöner Rant! Erinnert mich irgendwie auch an das Buch "Neue Demokratie im Netz?" (JF Schrape, 2010), das die Hoffnungen auf einen Wandel der Öffentlichkeit durch das Netz sozialwissenschaftlich unter Lupe genommen hat.

Gravatar: fkfk
05.12.2011
11:31

danke für den hinweis. das werde ich mal googlen und checken. und ja, der rant von finkeldey ist wirklich gut, bei all der netzbesoffenheit mittlerweile... :-) hgfk

Gravatar: GRRGRR
28.03.2013
12:06

Wäre es zu provokativ, diesen Beitrag auch mal dem Blog http://netzphilosophie.org/ zur Verfügung zu stellen?

Gravatar: fkfk
28.03.2013
12:21

nein, ganz und gar nicht. bitte einfach kopieren und übernehmen. gerne mit verweis auf hier und den blog von hartmut finkeldey. hgfk

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