DER TransPrivacy Blog

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02.11.2011
18:55

Ex domo – Die Eroberung der Straße durch den Künstler

Der Kunstwissenschaftler Emmanuel Mir geht in seinem Beitrag der Frage nach, auf welche Weise Künstler in der Vergangenheit den öffentlichen Raum für sich und ihre Arbeit genutzt haben.

Er beginnt seinen Ausblick an der Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance, zu der Zeit als die Künstler zu Künstlern wurden. Den thematischen Schwerpunkt seiner Betrachtungen legt Mir auf die Entwicklungen beginnend mit der Zeit der 50er und 60er Jahre, als es zu einer markanten Ausweitung des Kunstbegriffs kam.

ein Gastbeitrag von Emmanuel Mir

Ex domo – Die Eroberung der Straße durch den Künstler

Also leben wir in einer Welt, die transparent geworden ist. Also leben wir in einer Welt, in der die Privatsphäre zu einer res publica geworden ist. Also leben wir in einer Welt, die zu einer porösen Membrane geworden ist, in der das Innere und das Äußere keine eindeutige und eigene Oberfläche mehr besitzen und in der Dinge und Ideen schrankenlos in dem unbestimmt werdenden Raum hin und her zirkulieren.

Dies sind zumindest einige der Thesen des Projektes TransPrivacy. Dies sind Thesen, die gewöhnlich unter Philosophen, Medienwissenschaftlern, Anthropologen und Soziologen diskutiert werden.
Der Kunstwissenschaftler, der im Rahmen dieser Diskussion ein Statement abgeben darf, spricht in dieser Runde nicht so laut und deutlich wie seine Kollegen aus den anderen Sparten. Er sitzt da, blickt zurück und murmelt vor sich hin, etwas von der Geschichte. Von der Geschichte des Umgangs der Künstler mit dem öffentlichen Außenraum. Der Öffnung des Ateliers zur Straße. Der Verwandlung der Stadt in eine Bühne. Der Verquickung der Kunst mit dem Leben. Diese Geschichte, die den Bildenden Künstler als Hauptprotagonisten wahrnimmt und den Baumeister oder Architekten nicht berücksichtigen will, ist keine Saga, sondern eine Kurzgeschichte, gedrungen, substanziell – zum Weiterschreiben.


Der „freie“ Künstler im „freien“ Raum

An der Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance, als der Künstler zum Künstler wurde und sich von den übrigen Handwerkern distanzierte, löste er sich allmählich von der korporativen Organisation der Zünfte mit ihren eingebauten Schutz- und Fördermechanismen und gewann somit an Selbstständigkeit. Infolge dieses Absonderungs- und Individualisierungsprozesses wurde der öffentliche Raum zu einem immer bedeutenderen Rahmen der Präsentation seiner Arbeit.
Wollte er sich durchsetzen, war der „freie Künstler“ nun darauf angewiesen, seine Leistung sichtbar zu machen. Der Kreis seiner möglichen Mäzenen und Auftraggeber blieb zwar übersichtlich, und die wirklich entscheidenden Aufträge kamen zwar aufgrund von persönlichen Empfehlungen zustande und nicht durch erhöhte Exponiertheit auf dem Marktplatz; die Verpflichtung für eine Arbeit im öffentlichen Raum bot jedoch für den Kunstschaffenden die besondere Opportunität zur schnellen und weitläufigen Etablierung seiner Reputation.

Der Fürst, der einen Turm errichten oder ein Ritterstandbild anfertigen ließ, setzte bei jeder Umgestaltung des urbanen Raumes ein Zeichen, das von seinen Untertanen entziffert und interpretiert wurde. Jede gestiftete Kirche, jeder beauftragte Brunnen, jeder neu angelegte Platz, jeder feierlich eingeweihte Triumphbogen war eine demonstrative Geste mit beabsichtigter Außenwirkung – dies gilt auch in geringerem Maße für die dekorativen Programme der Kirchen. [1] 
Der Künstler, der diese Objekte zu realisieren hatte, befand sich in einer ähnlichen Lage wie sein Patron. Während Letzterer die Legitimität seiner Macht durch den Einsatz von Kunst zu gründen versuchte, nutzte der Künstler diese Gelegenheit, um sein Können, wenn nicht gar seine Virtuosität zu demonstrieren.
Dabei interessierte er sich nicht für den öffentlichen Raum an sich, für seine topologische Struktur, seine soziale Prägung oder seinen politischen Hintergrund. Nur die extreme Sichtbarkeit seines Werkes war da von Belang; nur die Tatsache, dass seine Arbeit an einem prominenten Ort stand und zu einem Medium der Selbstdarstellung mit starkem Multiplikatoreffekt gemacht wurde, motivierte ihn. Der urbane Raum war nichts anderes als ein fama-versprechendes Forum; auch wenn persönliche Motive wie Eitelkeit oder Geltungssucht eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben mögen, bestimmte diese Ökonomie des Prestiges den Umgang von Künstlern mit ihrer direkten Umgebung. Der Markt für Aufträge im öffentlichen Raum war umkämpft und die Konkurrenz groß.

Die Beauftragung eines Künstlers konnte schnell zum brisanten Politikum werden. Die Aufnahme bzw. Ablehnung eines Künstlers, eines Motivs oder einer Form für große Projekte im Außenraum hatte immer weit reichende Folgen für die Entwicklung der Kunst.
Der Wettbewerb um das Portal des neuen Florentiner Baptisteriums, der 1402 zugunsten von Ghibertis und gegen Brunelleschi entschieden wurde, ist in dieser Hinsicht ein klassisches Beispiel für das Eingreifen einer (hier: kirchlich-) politischen Machtinstanz in ästhetische Fragen. Dem Auftraggeber, der zwischen differenten Lösungen zu entscheiden hatte, gebührte also eine gestaltende Funktion: Er beschloss nicht nur, welcher Künstler zum Zuge kommen sollte, sondern auch wo und wie dieser Einsatz stattzufinden hatte.

Eine solche „Fremdsteuerung“ galt zwar für alle künstlerischen Aufträge – gleichgültig ob sie für private Zwecke oder den öffentlichen Raum gedacht waren –, sie markiert aber in Bezug auf unsere Thematik einen bedeutenden Unterschied zur heutigen Situation.
Das Verhältnis des Künstlers zum Außenraum wird sich bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht wesentlich verändern. Künstlerische Interventionen in der Polis werden bis zu dieser Zeit durch Aufträge ausgelöst, die sich auf die Gestaltung von Triumphzügen, Statuen, Denkmälern, Brunnen oder architektonischem Dekor beschränken.
Diese Eingriffe werden von einer Machtinstanz (wie politischen Gremien, privaten Mäzen, Kirchenvertretern oder Bürgervereinen) bewilligt, begutachtet und kontrolliert. Autonome Initiativen sind inexistent – es sei denn, man betrachtet das performative Flanieren des Dandys im 19. Jahrhundert oder die Praxis des Graffitis (die bis zur Antike zurückreicht) als gleichberechtigte Kunstformen.


Die Aneignung der Straße

Erst mit den Bemühungen um eine Ausweitung des Kunstbegriffs in den 1950er- und 1960er-Jahren veränderte sich dieses Verhältnis. Jenseits des Ateliers, der Galerie oder des Salons versuchte nun der Künstler, neue Räume zu erobern.

Hier ist besonders die japanische Gutai-Gruppe zu erwähnen, die mit einer zugleich konsequenten und verspielten Beharrlichkeit die bisherigen engen Grenzen der Kunst sprengte. Für ihre ephemeren Aktionen bevorzugten die Gutai-Künstler natürliche Schauplätze, an denen Licht- und Klangeffekte zur Wirkung kamen, oder Ruinen und freistehende Hallen, in denen ihre Gesten einen ganz neuen Umfang erhielten. Der private Raum wurde als inadäquater Ort der Entfaltung einer sich stets expandierenden Kunst wahrgenommen.

Noch gehörte die Straße nicht zu ihrem Handlungsrepertoire, aber die Freiheit und der Mut der Japaner inspirierten bald auch Europäer (insbesondere die ZERO-Gruppe), die infolgedessen den Sprung zum öffentlichen Raum wagen sollten.
Die ersten Happenings von Allan Kaprow fanden zwar in einer Galerie statt, aber schnell weitete sich diese besondere Kunstform auf die Straße aus. Das allererste Happening in Europa [2] ereignete sich 1960 in Venedig.
Jean-Jacques Lebel, das petit-enfant terrible des Surrealismus und ein unruhiger, wirbelnder Geist, hatte dort eine symbolische Trauerfeier organisiert, die einen indirekten Bezug zum Algerienkrieg nahm.
Eine „Leiche“, die aus einer Skulptur von Tinguely bestand, wurde durch die Gassen von Venedig transportiert und nach allen Regeln der Kunst bestattet.

Wenige Monate später fand unter der Federführung der ZERO-Künstler in Düsseldorf eines der ersten Happenings auf deutschem Boden statt. Anlässlich der Aktion Edition, Exposition, Demonstration malte Günter Uecker einen fünf Meter breiten Kreis auf die Pflastersteine vor der Galerie Schmela, während Heinz Mack die Straßen der Altstadt mit Aluminiumfahnen schmückte und die Menschenmenge Ballons in die Luft steigen ließ.

Das Statement war damals deutlich: Die Kunst hatte sich von ihren bisher zugewiesenen Wirkungsräumen zu emanzipieren und sollte nun die Straße – und die Welt – erobern. Das Happening vor der Galerie Schmela war nur ein Auftakt. Von da an begannen die Kunstschaffenden damit, verstärkt im und mit dem Außenraum zu arbeiten. Die Eroberung der Straße hatte gerade angefangen.

Die erste Phase dieser Eroberung war von einer gewissen jugendlichen Euphorie gekennzeichnet. In den 1960er-Jahren schienen die grauen Stunden der Nachkriegszeit vorbei zu sein und trotz des angekündigten langen, kalten Winters in den Ost-West-Beziehungen war die Stimmung optimistisch. Der heitere Wind einer verspielten und entfesselten Kunst, der Düsseldorf bereits erwärmt hatte, wehte nun weltweit.

In Prag führte Milan Knizak die Demonstration for All the Senses durch, bei der er kleine Hinterhöfe oder ruhige Straßen zu einem absurden Theater machte. Der Künstler gestaltete einen Parcours, bei dem unterschiedliche visuelle, haptische und Geruchskomponenten inszeniert wurden.[3] 
Vergleichbar mit dieser isolierten Aktion wurde wenig später in den Niederlanden eine größere „Feier“ organisiert, bei der die Öffentlichkeit aktiviert und die Straße poetisiert werden sollte. Das Festival Zero op Zee (1966) war eine ambitionierte Veranstaltung der NUL-Gruppe, die den öffentlichen Raum in eine riesige, traumhafte Bühne verwandeln sollte – wobei ein heranziehender Sturm zur Annullierung des Festivals führte.

In Nizza malträtierten am Rande des Festival d’art total et du comportement George Maciunas, Robert Bozzi und Ben ein paar Geigen und weitere Instrumente auf offener Straße und transferierten somit die Kunst in die Agora, unter den staunenden Menschen, die, nolens volens, ihre erste, leibhafte Berührung mit der Avantgarde erhielten.

Solche Streetevents wiederholte das Oberhaupt der Fluxus-Gruppe Maciunas in den folgenden Jahren in New York. Überhaupt darf Fluxus als wichtigste befreiende Instanz der Kunst betrachtet werden.
Die Komponisten, Bildenden Künstler, Tänzer und Dichter, die diese lasche und unheimlich dynamische Vernetzung in den 1960er- und 1970er-Jahren belebten, rechneten radikal mit der Hochkultur und ihren Tempeln ab und betrachteten die Straße als offenes Schlachtfeld (Vostel), chaotische Müllhalde (noch mal Vostel) oder als Spielwiese (Ono).

Es wäre jedoch ungerecht und falsch, diese breite „Befreiungsbewegung“ der Kunst, die aus der zeitlichen Distanz frei, unbekümmert und verspielt wirkt, zu einem pubertären und flüchtigen Aufblühen zu reduzieren.
Wie viele andere ihrer Zeitgenossen lehnten Künstler die dominierenden Werte und Normen ihres Milieus ab. Die Legitimität des Museums – als Organ der Bildung eines herrschenden Kunstgeschmacks – und die Relevanz der Galerie – als wirtschaftliche Beglaubigungsinstanz dieses Geschmacks sowie als Ort der Entdeckung und Lancierung neuerer Positionen – wurden zunehmend infrage gestellt.
Weil eine konsequente Institutionskritik nur außerhalb der Institution formuliert werden konnte, war es in diesem Kontext nur logisch, den öffentlichen Außenraum zum neuen Ort der Produktion und Vermittlung von Kunst zu machen.
Der Gang des Künstlers auf die Straße war also nicht primär von einer Poetisierung der Realität motiviert; es war in erster Linie ein politisches Projekt. Die Straße wurde nur nebensächlich in eine verzauberte Bühne verwandelt. Ihre echte Transformation bestand darin, sie zu einer demokratischen Plattform, auf der eine soziopolitische Kritik artikuliert werden konnte, zu machen.

Als sie 1969 mit ihrem Partner an der Leine durch die Wiener Straßen ging, sorgte Vali Export für einen kleinen Eklat und inszenierte zugleich die metaphorisch zugespitzte Emanzipierung der Frau von der patriarchalischen Herrschaft.
Ein Jahr zuvor hatte sie mit dem „Tapp- und Tastkino“ in München den öffentlichen Raum auf eine noch schockierendere Art bespielt: Sie stand in der Menschenmenge, ihr freier Oberkörper von einer Kiste umfasst, in die zwei Löcher auf Brustkorbhöhe gebohrt wurden, und bot jedem Passanten für eine kleine Geldsumme an, in die Kiste zu greifen und dessen Inhalt zu betasten. Dass hauptsächlich Männer zugriffen, dürfte nicht erstaunen – die Entlarvung war umso bissiger, als sie nicht im Verborgenen stattfand, sondern publik war.

Zum gleichen Zeitpunkt attackierte Jochen Gerz das Kunstsystem und platzierte Schilder, auf denen „Kunst korrumpiert“ stand, vor Denkmälern und historischen Skulpturen in unterschiedlichen europäischen Städten. Dem jungen deutschen Künstler ging es um eine prinzipielle Infragestellung der Funktion der Kunst in der Zivilgesellschaft.
Joseph Beuys vertraute seinerseits auf die reformatorische Kraft der Kunst und im Bewusstsein davon, dass sein Konzept der sozialen Plastik nicht im Elfenbeinturm formuliert werden konnte, hörte er sein Leben lang nie auf, den Kontakt zur Öffentlichkeit zu suchen. Gleichgültig, ob er seinen Aktionen eine eher skulpturale oder interventionistische Orientierung gab: Beuys hatte die Gabe, den öffentlichen Raum zu einer Spielstätte zu machen, wo er selbst der Darsteller von symbolträchtigen Handlungen war.

Beispiele dieser Art könnten wir ad libidum fortsetzen. Die Liste von Künstlern, die in den 1960er- und 1970er-Jahren aus ihren Ateliers regelrecht flüchteten, um eine politisch motivierte Rückgewinnung der Straße vorzunehmen, ist lang – wir müssen uns hier darauf beschränken, einige Akteure zu benennen und eine genealogische Linie zu zeichnen.

Mit unserem Fokus auf performativen bzw. interventionellen Elementen haben wir aber den skulpturalen Einsatz bisher völlig aus unserem Betrachtungsfeld gelassen. Denn es scheint für den zeitgenössischen Künstler zwei hauptsächliche Modi einer Okkupierung des öffentlichen Außenraums zu geben: den performativen und den skulpturalen.
Ohne allzu sehr in die Details zu gehen, lässt sich generalisierend sagen, dass ersterer Modus kurzfristig und eher „spontan“ angelegt ist, eine Konfrontation mit der Öffentlichkeit impliziert und partizipatorische, z. T. auch politisch- und sozialkritische Züge aufweist.
Die Straße wird im barocken Sinne als offene Bühne verwendet, wobei die Distinktion zwischen Schauspieler und Zuschauer diffus gehalten wird.
Der skulpturale Modus ist dagegen für die Dauer geplant, erfordert daher einen politischen und sozialen Konsens und ordnet sich bewusster im urbanen Stadtbild ein.
Seine Natur weist einen Hang zur Affirmation auf; i. d. R. erfüllt er eine repräsentative bzw. demonstrative Funktion. Zu dieser Kategorie gehören Aufträge der öffentlichen oder der privaten Hand, Statuen, Brunnen, Denk- und Mahnmäler sowie alle externen Kunst-am-Bau-Maßnahmen.

Leider handelt es sich nicht selten um unspezifische Arbeiten, die einfach vom Atelier des Künstlers zum Außenraum transferiert werden. In solchen Fällen ist die Skulptur nichts anderes als mehr oder minder sinnträchtige Stadtmöblierung die, trotz ihrer veränderten Rezeptionsmöglichkeit, für unser Sujet nicht von Belang ist.

Interessanter wird es, wenn der Ort seiner Platzierung zum integralen Bestandteil der künstlerischen Arbeit gemacht wird. Daniel Buren unterzieht beispielsweise den öffentlichen Raum einer tiefen Analyse und unterstreicht, dank seines „visuellen Werkzeugs“, dessen historischen, architektonischen oder topografischen Spezifitäten.
Seine Installationen, die zum großen Teil aus Bahnen, Fahnen, Plakaten oder anderen bunt gestreiften Flächen bestehen, fungieren als dispositive Sehhilfen, die die Wahrnehmung des Passanten auf bestimmte Phänomene lenken und damit ein Bewusstsein für verborgene Zusammenhänge überhaupt ermöglichen. Diese Strategie ist zwar weit davon entfernt, den öffentlichen Raum zu verherrlichen, die Interventionen von Buren sind jedoch mittlerweile anerkannte und von den Kommunen willkommene Statements, die zunehmend zu kulturellen Attraktionen verkommen.

Die monumentalen Skulpturen von Richard Serra entwickeln dagegen eine ambivalentere Wirkung. Auch wenn sie den Betrachter zu einer anderen Wahrnehmung des urbanen Umfeldes zwingen, sprühen sie eine physisch spürbare Bedrohung aus, die eine unbedingt positive Rezeption unmöglich macht. Trotz des respektablen Status und der hohen Reputation des Künstlers, sind die Werke von Serra deshalb immer wieder von heftigen Reaktionen, bis hin zu Bürgerprotesten, begleitet.

Wer sich heutzutage mit der Gattung des Denkmals beschäftigt und sich dabei nicht auf neutralem Terrain platzieren möchte (wie Ulrich Rückriem es bewusst und forciert tut), sondern im Gegenteil einen wie auch immer gearteten demokratischen Dialog sucht, verwendet den öffentlichen Raum als eine Projektions- und Reibungsfläche, worauf sich soziale Gruppen unterschiedlicher Herkunft begegnen – oder abprallen.
Wenn Olaf Metzel die Bronzeskulptur einer nackten Frau mit Kopftuch im Zentrum von Wien ausstellt, und diese Skulptur noch „Turkish Delight“ betitelt, kann er wohl mit Widerstand rechnen. Und zwar sowohl von der Wiener Bevölkerung, bei der die osmanische Gefahr sich anscheinend genetisch eingeprägt hat, als auch vom türkischen Konsul und von der türkischen Gemeinschaft, die sich persönlich beleidigt fühlen.
Kurz nach ihrer Einweihung wurde die Skulptur umgestoßen und randaliert; die Presse lief heiß, und während die Türken sich über die Intoleranz und den Rassismus der Europäer empörten, beklagten die Österreicher die Integrationsunfähigkeit aller Muslimen.
War die Arbeit auf Provokation angelegt? Wie Matthias Winzen unterstreicht, [4] hatte Metzel hier bloß eine Behauptung aufgestellt. Eine Behauptung, die die österreichische Einwanderungspolitik, die Beziehungen zwischen Orient und Okzident sowie Fragen des nationalen Selbstbewusstseins betraf.

Eine ähnliche Ablehnungsreaktion rief eine Skulptur von Katharina Fritsch hervor. Während der Ausstellung Skulptur-Projekt in Münster 1987 platzierte Fritsch eine lebensgroße gelbe Madonna in einer Fußgängerzone, strategisch gelegen zwischen Kaufhaus und Kirche.

Die quietsch-gelb leuchtende Figur, die nichts anderes als die Vergrößerung eines in einem Ramschladen gefundenen devotionalen Artikels war, sorgte für Proteste der Bürger und wurde – wie Metzels Skulptur – angegriffen. Man kann nicht behaupten, dass Fritsch eine engagierte Arbeit entwickelte, ihre Madonna jedoch erfüllte eine politisch-kathartische Funktion, die unerwartete aggressive Reaktionen hervorrief.


Die Subversion

Seit den 1980er-Jahren ist die Zahl der Künstler, die den öffentlichen Raum zum eigentlichen Sujet ihrer Arbeit machen, extrem gestiegen. Abseits der üblichen Kunst-am-Bau-Maßnahmen oder der mehr oder minder dekorativen Skulpturen in Fußgängerzonen handelt es sich da meistens um politisch motivierte Interventionen, die den Status der Straße – und damit den Stellenwert eines freien, individuellen und nicht normierten Zugangs zum öffentlichen Außenraum – infrage stellen.
Dabei rücken Phänomene der zunehmenden Privatisierung und der Ökonomisierung der Stadt in den Vordergrund, sowie aktuelle Entwicklungen wie die Überwachung des Stadtraumes, das Bürgerengagement in der Polis, der Verlust der Ausdrucksfreiheit und die Teilhabe an der Gestaltung der urbanen Umwelt.
Diese „Arbeiten“ sind also nicht affirmativ ausgerichtet und integrieren sich so gut in das Stadtgefüge, dass sie zunächst selten wie Kunst aussehen. Das Projekt TransPrivacy bettet sich in diese Kategorie ein.

Gordon Matta-Clark kann möglicherweise als Vaterfigur dieser jungen „Bewegung“ betrachtet werden. Durch seine spektakulären Interventionen in den 1970er-Jahren, in denen er verlassene Gebäude durchbohrte, durchtrennte und auseinandernahm, lenkte er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf bestimmte städtebauliche Prozesse.
In der Folgezeit vermehrten sich die Positionen, die die Stadt zum Rohmaterial einer künstlerischen Intervention machten. Darunter sind Künstler wie Andreas Siekmann, Banksy, Andrea Knobloch, Mark Jenkins oder die österreichische Gruppe sabotage zu nennen. Für sie ist die Stadt nicht mehr eine bloße vorteilhafte Bühne, worauf der Künstler sich und sein Werk bestens platzieren kann, sondern zugleich Stoff, Medium, Material, Produktionsstätte und Ausstellungsort einer entgrenzten künstlerischen Praxis.

In dieser Hinsicht ist die heutige Zeit von einer beispiellosen Öffnung gekennzeichnet. Während der öffentliche Außenraum noch bis in die 1990er-Jahre entweder von klassisch ausgebildeten Künstlern (mit ihren unspezifischen Skulpturen) oder von Street-Artists (mit ihren zugleich hermetischen und hochkonventionellen grafischen Marken) beansprucht war, machen nun immer mehr Bürger Gebrauch von ihrem kreativen Geist oder von ihrer subversiven Gesinnung, um die Straße zu „animieren“ und Mikrostörungen im Alltag einzubauen.

Diese neue Freiheit hat den Namen Urban Art bekommen und oszilliert zwischen situationistischer Intervention und Street Art. Die Monopolstellung des Bildenden Künstlers bröckelt: Jeder fühlt sich eingeladen, die Stadt zu einem Reaktions- oder Reflexionsort des Gesellschaftlichen zu machen. In dieser Welt bedarf es keiner künstlerischen Ausbildung, keiner institutionellen Unterstützung oder kommerziellen Lancierung mehr, um Stellung zu beziehen und sich auszudrücken.

Eine Hausfassade, der Eingangsbereich einer Bank, ein Brunnen, der Zaun einer Baustelle oder ein Steinpfosten werden zu Medien einer kritischen Wiederaneignung der Polis gemacht.
So wird eine liegende Palette in eine Bank verwandelt, Sperrmüll zu einer narrativen Skulptur komponiert, ein Straßenschild zu einem abstrusen Bild verfremdet oder das anonyme Stadtmobiliar zu einem Statement neu arrangiert. Auf der performativen Ebene popularisieren sich Manifestationen mit dadaistisch-situationistischem Charakter wie die Flash Mobs, die zum Teil nur wenige Minuten dauern, bevor sie von der Polizei, vom Ordnungsamt oder von Geschäftsinhabern entfernt werden.

Die „Organe“ der Vermittlung dieser Interventionen sind nicht die Museen oder die Kunstvereine[5], sondern Blogs, Internetplattformen und die sozialen Netzwerke, die eine angemessene, informelle und rasche Verbreitung dieser neuen Ausdrucksarten ermöglichen. Im deutschsprachigen Raum sind vor allem rebelart.net und urbanshit.de zu nennen.

Wenn eine zentrale Organisation oder ein einheitlicher Geist hinter all diesen Manifestationen zu spüren wäre, könnte man behaupten, dass sich eine breitere Bewegung des Widerstandes gegen die Homogenisierung und Kommerzialisierung des städtischen Lebensraums formiert.
Diese Aussage stimmt nur bedingt: Anstatt einer breiten Widerstandsfront hat man mit meist spontanen, autonomen und höchst heterogenen Individuen oder kleinen Gruppen zu tun, die kontextspezifisch reagieren. Vernetzung und Austausch sind zwar reichlich vorhanden, aber der Handlungsspielraum beschränkt sich meistens auf ein überschaubares Feld. Dynamisch, pointiert, adäquat und losgelöst von kulturpolitischen Kalkülen: Bei den jüngsten Tendenzen einer „Kunst im öffentlichen Raum“ hat man mit einer wahren Demokratisierung der Kunst zu tun.

Während die gut gemeinten Maßnahmen der 1970er- und 1980er-Jahre (Stichwort: „Kultur für alle!“) einen Zugang der breiten Masse zum Kulturkonsum „von oben“ ermöglichen, dabei aber Konsumenten anstatt von partizipierenden Akteuren bilden wollten, lösen die hier erwähnten Statements das Versprechen einer wahren demokratischen Kunst ein – einer engagierten Kunst von Bürgern für Bürger, die, mit einfachsten Mitteln und einem akuten kritischen Sinn, die Modi eines politischen Lebens in der Stadt hinterfragen würde.

 

'Demo von Wut' - Happening in Köln, 2005

 

1 Vgl. Busch, Werner / Schmoock, Peter (Hrsg.) (1987): Kunst – Die Geschichte ihrer Funktion, Weinheim, Berlin.

2 Vgl. Lebel, Jean-Jacques (1990): „D’une Biennale (1960) à l’autre (1990)“. In : Ubi Fluxus ibi motus 1990–1962 – Ausst. Kat. Venezia, ex Granai della Repubblica alle Zitelle, S. 75.

3 Vgl. Knizak, Milan (1990): “Aktual Walk – Demonstration for All the Senses”. In: Ubi Fluxus…, S. 308 ff.

4 Vgl. Winzen, Matthias (2010): „‘Bildhauerei hat mit Raum zu tun‘“. In: Olaf Metzel – noch Fragen? – Ausst.-Kat. MKM Museum Küppersmühle Duisburg. 

5 Einzige bedeutende Ausnahme in Deutschland bildet die Schirn Kunsthalle in Frankfurt a. M. und ihre Reihe „Playing The City“.

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  • 1 Kommentar(e)
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Gravatar: dadadada
29.11.2011
10:19

streetart ist alt. :-)

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