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26.10.2011
00:31

Agora der Repräsentationen?

Agora der Repräsentationen? Bemerkungen zur Verflechtung von Anthropologie, Telekommunikation und dem Bedürfnis, sich abwesend nahe zu sein

Agora der Repräsentationen? Bemerkungen zur Verflechtung von Anthropologie, Telekommunikation und dem Bedürfnis, sich abwesend nahe zu sein

ein Textbeitrag von Bernd Ternes zur Frage von Vertrauen und dem möglichen Entstehen von telegener Nähe, mit visuellen Kommentaren von Florian Kuhlmann.

1 - Verlust der Repräsentation

Wenn Verknappung erlaubt ist, könnte man folgendes sagen: Mit dem Verbund aus Computer, Netzverbindung und Interfaces hat sich die Signifizierung wieder etwas mehr vom Signifikat entfernt – mit dem Ziel, des Signifikaten als „Gegenstand“, als Referentielles nicht mehr zu bedürfen, weil das Signifizieren als solches signifikantes Signifikat zu werden hat. 
Die technisch reelle Virtualität erlaubt immer mehr, daß die binären Zeichen unter sich bleiben und daß diese Zeichen das Bezeichnete nur noch als traditionell nötigen Gebrauchswert in Gestalt gemachter Erfahrung, Erinnerung, „Fakten“ und Imagination außerhalb der virtuellen Erscheinungswelt referenzieren.

Eine passende, im „Spiegel“-Duktus angefertigte Umschreibung für diese Virtualität in der Dimension systemischer Steuerungsmedienkommunikation bietet Ullrich Fichtner in seinem Artikel „Die Logik des Bankrotts" [1], wenn er auf die reelle Arbeitsweise von Hedgefonds zu sprechen kommt:

Heutige Hedgefonds-Manager sitzen nicht zusammen und diskutieren darüber, ob griechische Sparpläne sinnvoll sind [...]. Sie füttern vielmehr ihre Maschinen mit immer neuen Daten [...]. Eingespeist wird alles, was an wirtschaftlichen Statistiken zu haben ist [... :] mit Bankdaten aus dem 17. Jahrhundert [...], mit Haushaltszahlen der florentinischen Republik zu Zeiten der Renaissance, mit Marktstatistiken aus Kriegs- und Krisenzeiten. [...] 
Der Hedgefonds wickelt seine Geschäfte zu 95 Prozent vollautomatisiert ab, die Computer analysieren Kurvenverläufe und Kurse, weltweite Preise und Zinsen, und bei bestimmten Konstellationen macht es einfach klick – und die Maschine kauft oder verkauft Positionen, ganz egal, was Politiker gerade beschließen oder Leitartikler schreiben. Die Menschen sind in diesem System nur noch dazu da, die Rechner auf dem neuesten Stand zu halten, ihre Software zu pflegen, die Algorithmen zu justieren, Programmfehler zu eliminieren.

Man kann diese Inversion in etwas älterer Diktion und zudem etwas philosophischer auch so zu beschreiben suchen: Im Akt des Auf-den-Begriff-Bringens, in dem sich die Begrifflichkeit selbstreferentiell auf das zu Begreifende einläßt, abstrahiert der Begriff vom Sosein des zu Begreifenden, evakuiert es in eine andere, abstrakte Form des An-und-Für-Sich-Seins, und hinterläßt nach dem Abstrahieren für das zu Abstrahierende eine neue Rangordnung, eine neue Position innerhalb der erkannten Wirklichkeit – nämlich die Position des Illustrats, der Anschauung, der Konkretion. 
Gewendet auf die im Entstehen begriffene elektronische Wirklichkeit: Der Name, das Bild, die Animation, der Avatar, das „soziale Netzwerk“, die eMail-Adresse, der Chat repräsentierten nicht mehr nur Sachen, Dinge, das Abgebildete, den Anderen, das Gegenüber, den „wirklichen“ Sachverhalt, das wirkliche Individuum aus Fleisch und Blut – vielmehr sind all die Erfahrungen, Dinge, Sachverhalte und die wirklichen Individuen jenseits der virtuellen Vergegenwärtigung mittlerweile auch in der mißlichen Position einer in Kauf zu nehmenden Referenz/ Reminiszenz. [2]

Oder, den „Sachverhalt“ einer Realisierung ohne Produktion in systemtheoretischer Neutralität ausgedrückt: Die Synthese der Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen (also des geistig-kulturellen Komplexes) „muß angewiesen sein auf die Nichtpräsenz von wie immer konzipierten Akteuren“. [3] 
D.h.: Die Formen des Begreifens, des Repräsentierens, des Anstelle-von-Seins sind weiterhin angewiesen auf die Möglichkeit des Referenzierens eben derjenigen Sachverhalte, die als gegeben angenommen werden, wenn auch als nicht vorhandene Gegebenheiten. – Kurzum: Jede Form von Abstraktion (des Wertes, des Zeichens, der Ware, der toten Arbeit, der Gegenwartszeit) ist ausgerichtet auf eine Emanzipation vom Konkreten (: der Gebrauchswert, das Bezeichnete, der Gegenstand, der Subjektivität, der Vergangenheit), bedarf aber gleichsam in rein negativer Beziehung eben dieses zu Negierende.

Dieser Sachverhalt ist an sich nichts neues und durchzieht die dokumentierte Menschheitsgeschichte seit ihren Anfängen. Neu ist indes, daß die Bilder, Zeichen, Ornamente, Symbole, Monumente, kurz: die Bezeichnungen von etwas zunehmend ihrer Funktion verlustig gehen, nämlich zu repräsentieren. 
Das in den Signifizierungen (und dann Digitalisierungen) und durch den Signifikanten (und dann durch die Computergenerierung) kommunikabel, beobachtbar, sichtbar Gemachte verliert stetig seinen Status als etwas, nach dem sich die Re-Präsentation zu richten hat („Nachricht“) als Methode, Abwesendes visuell, symbolisch, zeichenhaft anwesend werden zu lassen. 
Vielmehr „erzeugt“ die Signifizierung und der Signifikant immer mehr die Imagination von Abwesenheiten durch die nur noch strukturell resp. generativ-abstrakt verlaufende Re-Präsentation.

Thisisnotasmile.de - Florian Kuhlmann

Die Re-Präsentation eignet sich immer stärker die chrono- und diachronische Position des vergangenen, nichtpräsentisch Gegebenen an – gerade indem die Struktur der Identifikation von Zeit und Wirklichkeit ausgebeutet wird, nach der das Spätere nicht Grund des Früheren, das Bild nicht Grund des Abgebildeten, das Zeichen nicht Grund des Bezeichneten, die Re-Präsentation nicht Grund des Präsenten sein könne. 

Diese Art von Camouflage [4] läßt sich pointieren: Nicht weil etwas da war, besteht die Möglichkeit der Re-Präsentation, sondern: weil re-präsentiert wird, entsteht die vorstellungs-, bilder- und zeichenhafte Imagination des vergangenen Präsenten. [5] 
Die Frage nach den noch repräsentierenden (symbolischen) Zeichen und den das zu Präsentierende erzeugenden (generativen) Zeichen ruht, dies sei der Vollständigkeit halber erwähnt, der Frage auf, die sich im Zuge der Herausbildung der ersten abendländischen Medienpolitik (Jochen Hörisch) ergab, und zwar im Zuge des Problematischwerdens des Stellenwerts der Eucharistie.
Die Kernfrage etwa im Disput zwischen Luther und Zwingli war, „ob der Leib Christi im Altarsakrament gegenwärtig oder bloß bedeutet, gemeint, bezeichnet sei“; der Streit ging um die Frage, was das Abendmahl sei: „Körperlichkeit oder Zeichen; Realpräsenz oder Symbolik; Fülle der göttlichen Gegenwart oder formale Zeichenkombinatorik“?[6] 

Während also in dieser bis in die heutigen Tage nachwirkenden Phase des Anwesenheits-/ Abwesenheitsmanagements sich der Streit entzündete an der Frage: Ist das Abwesende reell in der Gegenwart gegenwärtig („Transsubstantiation“, also Wesensverwandlung) zu machen, oder ist es doch nur in der Gegenwart als Abwesendes darzustellen (repräsentierte Erscheinung)?[7] , so lautet die Frage für die gegenwärtigen Verhältnisse vielmehr so: Ist das Abwesende in der Gegenwart als Abwesendes darzustellen (also überhaupt noch re-präsentierbar), oder ist es durch das Darstellen überhaupt erst zu erzeugen und damit letztlich reine Positivität, reine Anwesenheit der Zeichen – und damit keine Abwesenheit mehr (zumindest keine mehr, die sich den „Zuordnungsregeln“ namens Spur und Aura subordinieren ließe)?

Nach der semiologischen „Befreiung“ des Textes vom Kontext, der medientheoretischen „Befreiung“ der Zeichen von der Repräsentation, der psychoanalytischen „Befreiung“ des Wünschens und Genießens vom Mangel – nun also die „Befreiung“ der medialen Anwesenheit von Abwesenheit als Abwesenheit?


2 - Über die Möglichkeit der Entkopplung von Vertrauen und Zugehörigkeit

Aus einer beinahe lapidar marktgesellschaftlichen Perspektive, die die gegenwärtigen Grenzen der Umsatzbedingungen bewußtseinsindustrieller Güter („Ideen“) im telematischen Kontext thematisiert, heißt es etwa bei Peter F. Stephan: „In zunehmender globaler Dynamik werden die Zeiträume von idea-to-market immer kürzer und der Ruf nach Innovationen richtet sich weniger an den Einzelnen als vielmehr an Gemeinschaften. Vorteilhaft ist hier eine größtmögliche interne Offenheit und Fehlertoleranz, die nur aus Vertrauen erwachsen kann. Während große Teile der technischen Produktion mittlerweile gut telematisch abgewickelt werden können, zeigt sich in der Entwicklungsarbeit, dass das harte soziologische Kriterium von ‚Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden’ [...] von Bedeutung bleibt. Durch gemeinsamen Kontext wird ein unsprachlicher ‚Hintergrund des Wissens’ [...] wirksam, der medial bisher kaum vermittelt werden kann.“[8] 

Während also kommunikationstechnologisch eine komplexe Analyse und Darstellbarkeit des Datenverkehrs und der informationellen Spuren elektronischer Aktivitäten längst keine Probleme mehr bereitet (generell: „mapping“-Technologie), steckt die komplexe Reduktion von Komplexität durch Vertrauen in der elektronischen Kommunikation kommunikationssoziologisch noch in der Phase der Ungelöstheit – gekoppelt an die Unentschiedenheit, ob „vertrauensbildende Maßnahmen“ eher im Modus der Reminiszenz an Anwesenheitsinteraktion refiguriert/ simuliert werden sollen, oder doch eher in einer neuen, noch unbekannten Weise, die die Abwesenheitsbeziehung als nicht-defizitären, als eigenständigen Referenzrahmen akzeptiert für die Kreation von bis jetzt noch unbekannten Formen der Vertrauensbildung. [9] 
Oder geht es gar ohne das bisher lebensweltlich äußerst verstrickte Vertrauen, verstanden als Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (Luhmann) [10] in der Anwesenheitswelt, der als Mechanismus der Reduktion in der telematischen, technogenen Abwesenheitswelt strukturell nicht mehr ausreichend zum Einsatz kommen kann – und es daher geboten scheint, besser auf ihn zu verzichten? [11] 

Hier, bei der Frage nach „dem Vertrauen“ im Internet, scheint sich zu entscheiden, ob mit den ersten Formen technogener Nähe tatsächlich ein Umbau der conditio humana zu beschreiben ist, ein „Umbau“ von tiefenanthropologischer und also sozialevolutiver Reichweite.[12] 
Denn Vertrauen resp. „vertrauensbildende Maßnahmen“ (indes nicht: die Kommunikation über Vertrauen und auch nicht die Aufforderung, zu vertrauen) stellen bis jetzt das einzige monopolartige Medium bereit, um anonyme Sozialbeziehungen, die nicht mehr eingesehen werden können, mit einem Mindestmaß an Selbstverständlichkeit und Implizitheit auszustatten[13] – das gilt selbst für kontraktuelle/ juridifizierte und für kulturell wie organisationell verhaltensnormindizierte Beziehungen, die sich ex negativo darauf verständigt haben, daß Vertrauen allein nicht ausreicht, das Prozedieren, die Erwartbarkeit, die Kontinuität sozialer Beziehungen zu gewährleisten.
Mit den Herausforderungen eines erneuten Anonymisierungsschubes [14]  innerhalb technisch hochvermittelter Kommunikationen (bei gleichzeitiger „konträrer“ Explosion öffentlich werdender Privatismen) stellt sich im Konzept der technogenen Nähe daher die Frage, ob intrinsische Bindungen zwecks Erfüllung und Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen, die neben den Norm- und Regelquellen namens Vertrag und Sozialität (Gemeinschaft, Kultur, Interaktion) eigenständig zu bestehen haben, durch die Technologisierung von vertraglichen und sozialen Beziehungen generiert werden können. Dabei geht es vorrangig um die technologisch motivierte Teilnahme, Teilhabe an und Verantwortungsübernahme für das Gelingen sozialer, erwartungssicherer Beziehungen.
Das wäre an neuen Formen globalisierten Rechts, dessen Rechtskraft auf den Vertrag (und nicht mehr ausschließlich auf den Staat) als Quelle zurückzuführen ist [15] , und an gelungenen, d.h. kontinuierlich installierten virtuellen Gemeinschaften, die die Aufrechterhaltung und Erfüllung von sozialen Beziehungen netz- und computerbasiert prozessieren, zu untersuchen.
Zu fragen ist hier, ob die jeweilige kommunikations- und informationsorientierte Technologisierung von Beziehungen, die auf Vertrag und Normierung aufruhen, eine eigenständige Quelle nachhaltiger motivationaler Bindung erzeugt. Es ist dabei zu erwarten, daß die knapper werdenden sozialisations-, interaktions- und organisationsgerahmten Ressourcen zur motivierten Teilnahme an Gesellschaft, deren soziale Mobilität zugenommen hat, ergänzt und ausgeglichen werden durch technologiegerahmte intrinsische Motivationalität.
Ausgehend von der These, daß „identities are triggered by disjunctions in interactions, social and environmental“[16] , ist also die zunehmende Technologisierung von Interaktion und Kommunikation zu untersuchen in ihrer Kapazität, exakt für diesen modernen Identitätstyp die passenden Vermittlungsformen bereitzustellen. Läßt sich dies erweisen, dann sind damit erhebliche Umstellungen innerhalb kulturtheoretischer und sozialintegrativer Annahmen über das Gelingen auch interkultureller Kommunikation und Handlung festzustellen – vor allem aber Umstellungen im sozioanthropologischen „Substrat“ des homo sapiens sapiens.

Es geht, mit einem Wort, um die Möglichkeit der Entkopplung von Vertrauen und Zugehörigkeit, und daraus folgernd um die Verhinderung des Einrastens von Mißtrauen und Fremdheit – durch ein „neues Medium“, das Nahheit, Fremdheit, Vertrauen und Zugehörigkeit, Distanz und Engagement anders als bisher arrangiert/ formatiert: durch technogene Nähe.
Diese technogene Nähe, verstanden als Sozialprodukt einer hier anzunehmenden veränderten conditio humana innerhalb der nächsten fünf bis acht Generationen, ruht indes auf der Überzeugung, daß wesentliche Bestandteile der conditio menschensozialer Organisation untangiert bleiben. Dietmar Dath nennt die folgenden: Erzeugung von stofflichem Reichtum über das ökonomisch notwendige Quantum hinaus; Erzeugung von Reichtum über das zur biologischen Reproduktion notwendige Quantum hinaus; kooperative Arbeitsteilung; Erzeugung von Geschichte; sowie die Realisierung eines Prozesses, „der das Gattungswesen schließlich dahin führt, [..] tendenziell für alle tendenziell alles erzeugen zu können, was sich überhaupt erzeugen läßt.“[17]
Mit Dieter Claessens soll davon ausgegangen werden, daß Menschen als soziale Menschen per se luxurierende Weltlebensverhältnisse zu erreichen suchen[18], in denen der Mangel stetig an existentieller Bedeutung verliert. (Betrachtet man die Weltgesellschaft heute, muß man feststellen, daß dies nur für einen Bruchteil derselben eingelöst ist – zumeist noch auf Kosten der im existentiellen Mangel Überlebenden.)


3 Die Figur des Netzwerks

Gewiß ist derjenige im Recht, der die Figur des Netzwerkes, die Figur des kontraktuellen oder kommunitaristischen Networkings im gegenwärtigen ideologischen Diskurs restrukturierter Politökonomie als neuste mikrostrukturelle Erscheinungsform des Gegeneinanderkämpfens bedeutete (oder, in älterer Terminologie: diese Form „konkreter Arbeit“ im vollständigen Ableitungsverhältnis zur „abstrakten Arbeit“ statuierte). Doch auch hier gilt meines Erachtens die vielleicht naive Sicht, daß sich Emergenzien aus funktional/ strategischen sozialer Beziehungen ergeben können, die nicht nur nicht intendiert sind, sondern invertierende, vielleicht gar transformierende Kräfte betreffs des „Reichs toter Arbeit“ freisetzen.

Die „Herstellung“ einer neuen, bis in die sozialanthropologischen Strata menschlichen Daseins reichenden intensiven Fähigkeit („Vermögen“) zur unpersönlichen Mit-Beziehung („intensive Anonymitäten“; Manfred Faßler) der Menschen jenseits ihrer Marktsubjekt-, Kulturkonsumenten- und zumeist sportiven Schwärm- und Verausgabungshüllen gilt es auf den folgenden Seiten vorstellbar zu machen – also ein Plädoyer für die sozial orientierte unpersönliche Beziehung und ein Plädoyer für die Möglichkeit, daß ebendiese nicht nur im Verbund mit Marktvergesellschaftung zu haben, daß sie also von ihrer gesellschaftshistorischen Form zu lösen und in einer anderen gesellschaftlichen Praxis organisierbar ist, die mehr der Erweiterung und weniger der Zerstörung der alltäglichen Mit- und Umwelt dient.[19]

Freilich liegt in diesem Gedanken einer der höchsten Utopiedosierungen vor: denn intensive soziale Beziehungen (im noch zu erläuternden Sinne) „erschienen“ und „erscheinen“ auf den Monitoren nicht nur spätkapitalistischer Makroorganisationen grosso modo entweder als inszeniertes (Sport-) Spiel oder als inszenierter/ dissimulierter Krieg.
In den kapitalistischen Gesellschaften werden – abgesehen von der kulturidealistischen bürgerlichen Erfindung konzertanter/ theatralischer Aufführung zum Zwecke passionaren oder kathartischen Schwärmens – nur diese „niederen“ Erregungsgestalten großformatig skulpturiert [20]; ansonsten hat es öffentlich klimatisiert (verfahrensprozeduralisiert) zuzugehen[21]: der Rest wird – mit leichter und bitterer Ironie gesagt – in den Familien geregelt oder durch das Bürgerliche Gesetzbuch (gegenwärtig mehr durch das Bürgerliche Strafgesetz in den unteren und den oberen „Schichten“ der Gesellschaft).

„Nach Abschaffung der Gladiatorenkämpfe richteten die Christen das Eheleben ein“ – dieser kabarettistische Satz Ceronettis[22] bringt pars pro toto zum Ausdruck, daß Versuche, intensive und intensivste Beziehungen gesellschaftlich zu vermitteln und in dieser Vermitteltheit zu moderieren, ‚kathartisch abzuführen’ oder gar zu transzendieren, recht schnell zugunsten einer privatisierten Organisationsweise innerhalb gesellschaftlicher Institutionen und Teilbereiche (Familie, Freizeit; gegenwärtig vermehrt: innerhalb einer immateriell verstandenen Arbeit) aufgegeben wurden.


4 Freund, Feind und Zugehörigkeit

Und besonders die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts setzen jede Vorstellung, die über die flächendeckende Realisierung eines staatsbürgerlichen Privatismus und eines ehrenamtlichen Bürgerschaftsengagements hinaus einem motivational hochangereicherten Engagement für „Großgemeinschaften“ (Peter Sloterdijk) das Wort redet, sofort unter Verdacht, auf individualitätsverachtenden Totalitarismus hinauszulaufen.
Bestimmte Deutungen sozialgeschichtlicher Prozesse geben einem solchen Verdacht recht – um so schwieriger wird es sein, im Gedanken der technogenen Nähe als eines der abstrakt-artifiziellen Gesellschaft nun angemessenen Nähe Arrangements[23] von gesellschaftlicher Distanz (De-Ragements) und gesellschaftlichen Engagement das historisch nicht Ableitbare, nicht Deduzierbare, nicht Vererbte kenntlich zu machen; und noch schwieriger wird es, in diesem Begriff eine womöglich neue Geschichtlichkeit zu erkennen, die in der vergesellschafteten Technologie potentiell angelegt ist, besser: angelegt sein könnte.[24]

– Gewiß ist diese Denkungsart traditionell hoffnungsfroher Art und zudem tief eingegraben in die Blochsche Rekonstruktion des Marxschen Imperativs einer ‚Naturalisierung des Menschen/ Humanisierung der Natur’, hier nun allerdings flexiert als Artifizialisierung des Menschen resp. der Humanisierung des Artifiziellen. Das „Realexperiment der Welt selber“, die „Weltsache“, „die aus dem existenziellen Dunkel herausgeführt werden muß, um in den Realitätsort wirklicher Nähe hineingeführt, ins Gegenwärtige, gar Gegenwärtige der Wirbegegnung hineingebracht zu werden“[25], wird nun also in der sozialanthropologisch detektierbaren Elektronifizierung des Mit-Seins der Menschen ‚verlegt’.
Diese utopische, spekulative, phantasierte, induzierende, szenarienhafte Erörterung all der möglichen Realisierungen durch und in technogene Nähe hat indes, nochmals sei daran erinnert, einen bestimmten Sinn.

Es geht, negativ formuliert, nämlich darum, die Unterscheidung von Freund und Feind als Bezeichnung des äußersten Intensitätsgrades einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation so weit wie möglich zu marginalisieren[26] – und trotzdem nicht abzulassen von der Notwendigkeit intensiver sozialer Beziehungen (jenseits derjenigen in der lebensunterhaltenden Arbeit, in der drogenunterstützten Freizeit, der computerunterstützten Kommunikationsverdichtung), die es nun technologisch-technogen zu formatieren gilt, aber nicht mehr ideologisch zu züchten, nicht mehr affektualistisch zu designen, nicht mehr psychoanalytisch zu verewigen, nicht mehr rationalistisch zu verteufeln.
Es geht also um das Sondieren anderer, neuer Formen dessen, was soziale Zugehörigkeit heißt – eine multispektrale Sozialdimension des „Aufgehobenseins“ mit explosiver (Zerstörungs-)Kraft und atemberaubender Unterkomplexität der Reduktion von Wirklichkeiten; eine Koordinate mithin, deren Verschiebung, so etwa Harald Welzer, bewirkt, daß aus normalen Menschen Massenmörder und aus lebenlassenden Wertesystemen lebensvernichtende werden können.[27]


5 Selbstreferentialitäten 

Doch damit fangen die Probleme an, vor allem, wenn diese großen, utopiegetränkten Worte, Visionen und epistemischen Horizonte kurzgeschlossen werden sollen mit der „zivilgesellschaftlich“ vorherrschenden gegenwärtigen Praxis der Kommunikationstechnologien, etwa des Internets: Ist dieses, um bloß negativ Minima zu nennen, wirklich mehr als „ein Fernsehen, das den klassischen Anspruch, Langeweile zu vertreiben, mit der Aktion und Interaktion des Telefons, des Leserbriefes oder der Spielrunde verbindet“?; mehr als bloß ein offener Fernsehkanal, „der gleichzeitig als Telefon, Schreib- und Briefmaschine, Bibliothekskatalog, Plattenspieler, Fotoalbum, Rundfunkstation oder Spielekonsole genutzt werden kann“?[28] 
Bezieht sich das „Geschreibsel in Blogs, Foren, im Twitter-Netzwerk und auf Facebook“ nicht doch „inhaltlich überwiegend auf das, was DPA-Ticker, ‚Spiegel Online’ und ‚Tagesschau’-Chefredakteure vorgeben“[29]? Oder geht sogar diese bescheidende Beschreibung fehl, wie Friedrich Kittler nahelegt, da das Netz letztlich nicht mehr sei als „eine computergesteuerte Verschaltung fast aller Computer“?[30]

Ist also die Vorstellung, mit den Kommunikationstechnologien kündige sich ein Umbau im sozioanthropologischen Gefüge der sozial intensiven Beziehungen von und zwischen Menschen an, evidenterweise völlig absurd, so absurd wie die Vorstellung, ein Autofahrer kommuniziere vermittels Gaspedal und Fuß mit seinem Automobil? Hat sich bis jetzt nicht evident erwiesen, daß das Internet bei interpersonalen und partizipativen Kommunikationsaktivitäten schlicht indifferent bleibt?

Diejenigen, die solcher Infragestellung etwas entgegensetzen möchten und einen Mittelweg suchen zwischen moderater Apokalypse, lakonischem Realismus und gemäßigter Euphorie, tun sich indes schwer mit dem Aufweis, daß das World Wide Web resp. die neusten Kommunikationstechnologien für die zivile, ökonomische und private Nutzung/ Gestaltung mehr ist als alter Wein in neuen Schläuchen.
Im Auftaktessay einer dreiteiligen „Zeit Internet Spezial Reihe“ anläßlich des 15.ten Geburtstages des Internets („Öffnung“ des Netzes am 30.04.1993), die den Veränderungswirkungen des Internets auf Leben, Gesellschaft und Kultur gewidmet war, liest man bei Uwe Jean Heuser und Gero von Randow dies: „Das Internet ist ja nicht einfach ein Addendum zum Gespräch, zum Druck, zum Film, zum Rundfunk und Fernsehen; es ist das Medium der Medien, privat und öffentlich zugleich, ist alles Vorherige und noch viel mehr.“
„Es führt kein Weg daran vorbei: Das Internet ist Realität.“[31] Auch die meisten übrigen Einlassungen dieser großangelegten journalistischen (und leider nicht problematisierenden) Aufbereitung des Phänomens Internet können das insinuierte Revolutionäre des Mediums nur in behauptender Weise und zudem nur auf der Folie implizit bleibender, längst überkommener und zumeist diffus eingesetzter „epistemologischer“ Überzeugungen zur Sprache bringen.[32] 
Das Insistieren darauf, daß das Internet eine Realität sei (beinahe vergleichbar dem Insistieren „der Neuzeit“, legitim zu sein), bezeugt das Ernstnehmen einer erkenntnistheoretischen Referenz, für die allenfalls ein kruder Materialismus einstehen könnte – und den es als ernstzunehmende erkenntnistheoretische Position meines Wissens schon seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr gibt.
Daß Gesellschaft eine imaginäre Institution ist, mehr noch: daß die Erwartungen an die Erwartungen der anderen, daß Glauben, Vertrauen, Sehnen, Denken, Begehren, Träumen, daß Entwerfen[33], Spintisieren, Improvisieren, Probehandeln, daß das leider immer einbildungskraftärmer werdende In-Möglichkeiten-Schwelgen (nicht nur à la Musil), das Konstruieren[34] elementare Bestandteile jeder harten, handfesten, „wirklichen“ Realität sind, scheint einer solchen Sichtweise, die extra meint betonen zu müssen, auch das Internet sei Realität, entgangen zu sein.

Man muß nicht psychoanalytisch argumentieren, um gute Gründe für die Auffassung zu finden, daß die Illusion nicht im Widerspruch steht zur Realität[35]– und die Möglichkeit, gar die Fiktion nicht im Widerspruch zur Wirklichkeit.[36] Der folgende Satz aus dem Jahre 2009 ist daher durchaus nicht mehr nur metaphorisch zu verstehen, sondern Ausweis einer (sicherlich marktideologischen und die Erfahrungen der Automobilreklameerkenntnisse einholenden,) technisch verkörperten Form des erweiterten „Lebens“ in Fiktionen: „Ein Handy wie das iPhone ist schon heute für viele so etwas wie ein zweites Zuhause, eine Art Bedienungsoberfläche für das eigene Leben geworden.“[37]

Bevor der Intensität sozialer Beziehungen durch Technik (und nicht allein nur mit Technik) nachgegangen werden soll, scheint indes ein abschließender Exkurs zur Ontizität resp. zur Realität von Virtualität der technogene Nähe „herstellenden“ Medien angezeigt zu sein. Er dient der Aufrauhung und zugleich Verdichtung von Vorstellungen, die oft nur in einer Fluchtbewegung sich der Einholung von Realität, Wirklichkeit, Faktizität usw. widmen.

 

Thisisnotawink.de - florian kuhlmann


6 welcher Realitätsstatus kommt der sich neu vergesellschaftenden Virtualität zu?

Illusion, Fiktion, Einbildung und dergleichen mehr stehen also nicht in einem Widerspruch zur „Realität“, so man voraussetzt, daß es eine solche niemals als objektive, d.h.: als beobachterunabhängige, geben kann. Aber das scheint bei der Frage nach dem Realitäts- resp. Unwirklichkeitsgehalt technisch möglicher Virtualität wie auch bei der Frage, ob „das Digital“ bloß Fortsetzung oder Revolutionierung bestehender Organisationsformen gesellschaftlicher Praxis und Dynamis ist, nicht der springende Punkt zu sein.

Vielmehr scheint das „WWW“ resp. die sich ersteweltgesellschaftlich installiert habende Elektronifizierung von Kommunikation einzustehen für etwas, was man als Diversifizierung des Realitätsbegriffs selbst bezeichnen könnte; eine Realitätsdiversifikation, die grundlegender zu sein scheint als die seit über zwei Jahrzehnten bekannte Pluralisierung nicht nur von (Lebens-)Stilen, als die Multikulturalität von Lebenswelten, als die Polykontexturalität von Beobachterverhältnissen, als die Verschiedenheit von Sprachen, als die Individualität des konsumistischen Habitus – und dies bei gleichzeitiger höchstformalisierter, höchststandardisierter, höchst kontrollierter und rigid codierter technizistischer Grundierung, die den Zwang zur Befolgung technischer Vorgaben in einem solch allgegenwärtigen Gestell installiert, daß der Zwangs- und Disziplinierungsaspekt zusehends Einlaß erfährt in die Ebenen lebensweltlicher Selbstverständlichkeit – und damit auf den Monitoren der Reflexion zunehmend verschwindet.[38] Aber mit diesem Unsichtbar- und Selbstverständlichwerden (nicht: Verschwinden!)[39] der Zwangs-, Kontroll- und Disziplinvorgaben wiederholen sich nur in einer ambivalenten Bewegung all die komplizierten Prozesse der Sozialisation, Individuation, Enkulturation, die dem homo sapiens sapiens im „First Life“ zugemutet werden.

Das „Überspielen“ sozio-struktureller Formatierung in techno-soziale Beziehungsareale ist zugleich verbunden mit der Möglichkeit, etwas mehr Einsicht zu bekommen in die impliziten Wirkmechanismen und -komplexe gelingender/ mißlingender „Psychosozialintegration“ (Gestaltung sprachlicher, rechtlicher und ökonomischer/ monetärer Interfaces für soziale Anerkennung), wie auch mit der Wahrscheinlichkeit, daß sich neue Implizitheiten, neue Latenzen, neue explikationsaversive Strukturen (nun vornehmlich technisch erscheinender Art) im Zuge der Technosozialintegration ausbilden, besser: „eingraben“ werden (Gestaltung technoästhetischer, kommunikativer und aufmerksamkeitsökonomischer Interfaces für soziable Anerkennung). [40]
Kurzum: Bei der Klärung der Frage, welchen Realitätsstatus der sich neu vergesellschaftenden Virtualität zukommt, ist sicher die Geschichte der Friktionen zu bemühen, die bei der Durchsetzung des Buchdrucks und generell der Schrift als maßgebende Ordnungsgeneratoren sozialer Welten ihren Ausgang nahm; und sicher ist die Prozessualität der ontischen Veränderungen sozialer Verhältnisse durch das elektronifizierte/ elektronische Kommunizieren eine strukturelle Fortsetzung derjenigen Prozessualitäten ontischer Veränderungen, die mit der Industrialisierung, mit der Modernisierung, mit der Verrechtlichung, mit der Sozialgesetzlichkeit, mit der Nationenbildung, mit den ‚Revolutionen’ in der Politik, in den Wissenschaften, den Künsten, der Technik einhergingen. 

Und zugleich sind sie doch mehr als nur Fortsetzung und Filialisierung bereits bestehender Strukturen der Veränderung, wie sie für den modernen Kapitalismus essentiell sind, nämlich eine mögliche negative Öffnung des sozio-anthropologischen Horizonts von Gesellung überhaupt – und damit also zugleich auch Ereignis (und nicht nur Struktur), Ereignis, für das „neue“ Sonden der Beschreibung notwendig erscheinen, und neue Beschreibungen von sozialen Sachverhalten. 
In anderen Worten drückt diese negative Öffnung Dietmar Kamper aus, wenn er, Vilém Flussers Kommunikationsphilosophie erweiternd, schreibt:
Am äußersten Punkt der computerisierten Zeit wächst der Schmerz des Vermissens, der Entbehrung, des Mangels. Die Leere der Gegenwart wird schier unerträglich. Diese Absenz markiert im fortgeschrittensten Medium eine unüberwindliche Grenze der menschlichen Eigenmacht, sprich Abstraktionsmacht. Hier hat das alte Modell von ‚Subjekt-Objekt’ ausgespielt. Der Mensch wechselt von der Konfrontation zur ‚Manchfaltigkeit’, in die er sich verwickelt weiß. Die Welt schlägt um vom Gegenstand zum Horizont.[41]


7 - Einloggen um sich einzuloggen

Die elektronische Infrastruktur stellt per se einen Möglichkeitsraum jenseits der reellen Sozialwirklichkeit zur Verfügung – also jenseits des sozialräumlichen Radius’ der bekannten „drei Schritte“/ „drei Ecken“ –, dessen Hauptcharakteristikum Instabilität ist, besser: Kontingenz. Dieser Möglichkeitsraum wiederum stellt ein Hauptcharakteristikum moderner Sozialität dar – und wurde maßgebend durch künstlerische Semantik vermittelt (Literatur): als gegenstrebige „Bewegung“ zur sozial wirksamen anthropologischen Erbschaft reeller Sozialwirklichkeit. Christakis und Fowler kennzeichnen diesen reellen Wirklichkeitsraum und seine Wirkung auf den Möglichkeitsraum so:

Es „haben sich Menschen in kleinen Gruppen entwickelt, innerhalb derer jeder mit jedem über drei Ecken und weniger in Verbindung stand. In derart kleinen Gemeinschaften ist es nützlich zu wissen, ob es jemand auf uns abgesehen hat oder unser Verbündeter ist und ob andere unsere Hilfe benötigen oder uns helfen könnten. Außerdem ist es nützlich, andere in der Gruppe dazu zu bringen, unser Verhalten zu übernehmen. Wir leben jedoch noch nicht lange genug in großen Gesellschaften, als dass die Evolution Menschen hervorgebracht hätte, die ihren Einfluß auch über diese drei Schritte hinaus ausdehnen können. [...] Wir sind vielleicht deshalb nicht imstande, über mehr als drei Ecken zu wirken, weil in den Anfängen der Menschheitsgeschichte niemand weiter als drei Schritte vom anderen entfernt war.“ [42]

Es geht also mit der hier ins Auge gefaßten Kommunikationstechnik um ein Instrumentarium, das ermöglicht, reell (und nicht mehr nur semantisch/ imaginaristisch) Kontakt zum Möglichkeitsraum aufzunehmen. Allein diese Kontaktaufnahme, dieses Ausprobieren ist der Zweck; alle anderen Zwecke sind traditionelle Zuschreibungsroutinen, die natürlich weiterhin wirksam sind (der Möglichkeitsraum als Verkaufsraum), aber den „sozio-logischen“ Zwängen der Erklärung und Deutung allein gehorchen – McLuhans Medienutopie wird damit bestätigt und ineins plastischer, aber auch weitreichender realisiert.

Wenn etwa ein Facebook-Mitglied laut einer Studie von Nielsen Media Research im Februar des Jahres 2010 durchschnittlich „19mal im Monat“ das Community-Portal von Facebook und also ‚sein’ soziales Netzwerk besucht [43], dann ist davon auszugehen, daß diese Besuche zu einem nicht geringen Teil selbstbezügliche Besuche sind: das Besuchen selbst ist das Ziel des sich Anmeldens, das sich Einloggen selbst ist der Grund des Besuchs. 
Wenn etwa das Pew Research Center in einer Studie namens „Teens, Cell Phones and Texting“ feststellt, daß „[h]alf of teens send 50 or more text messages a day, or 1,500 texts a month, and one in three send more than 100 texts a day, or more than 3,000 texts a month“[44], dann ist davon auszugehen, daß das SMS-Schreiben das eigentliche Ziel, der eigentliche Zweck ist, und nicht mehr das Mittel: das Medium wird zur Botschaft und zugleich zum (wie auch immer zu beurteilenden) sozialen Handeln. 
Will sagen: Gleich dem einfach oder mit Leuten Unter-Leute-Gehen – vordringlich praktiziert am immer noch wirksamen Wochenende als eigenständiger Zeiträumlichkeit –, bei dem das Unter-Leuten-Sein Selbstzweck ist, obgleich durchaus und weiterhin Gründe, Motive, Anlässe dafür nötig sind (außer beim Flaneur), ist der elektronische Kontakt via Handy, mit den und in den social media-Foren zum noch genau zu bestimmenden Anteil schon „lebensweltlich umgekippt“, d.h.: das eigentliche Movens der Interaktivität ist diese selbst. 
Die Interaktion realisiert sich, kommt zu sich durch die Aktivitäten des Realisierens; der Grund, das Ziel, die Adresse, das Vorhaben, die zu erreichende Person, Aktion etc. sind nur noch nötige Umwelten.[45] Robert Pfaller hat diesen Gedanken psychoanalytisch sogar zu erweitert versucht durch die Annahme, daß mittlerweile in Beziehungen zwischen Menschen und (Kommunikations-)Technologien, die als interpassive bezeichnet werden können, selbst schon die Motive des Umgangs mit und Nutzens der Techniken an diese abgegeben werden – das Genießen also delegiert wird. [46] 
Aber das sind bisher eher technologische Randphänomene, wenngleich der Topos des delegierten Genießens vor allem durch die christologische Mentalitätsgeschichte wohl immer noch ein Massenphänomen darstellt (zumeist in der perversen Form der Schuldübernahme).

Man kennt dieses Umkippen kausaler Ursache-Folge-Ensembles[47] als schon weit verbreitetes beim Nutzungsverhalten der (jungen) Menschen betreffs Mobiltelephon: Nicht weil man jemanden anrufen möchte, benutzt man das Handy; vielmehr ruft man jemanden an, weil man das Handy benutzen möchte. In der „nichttechnischen Lebenswelt“ gibt es Tausende dieser Inversionen, Konversionen, auch Implosionen und Explosionen von Ursache-Folge-Prozeduren[48]– besonders da, wo es um Sprache und Sprechen geht, aber auch weiterhin im Handlungsbereich sozialer Ritualisierung[49]
Etwa: Nicht weil man mit einem anderen Menschen im Raum sich verständigen will, spricht man – vielmehr spricht man mit jemandem, weil es das Medium Sprache gibt (Interaktionsrituale, Höflichkeitsstandards, Peinlichkeitsnormen) –, und das Nichtsprechenwollen meistens dem Druck des sozialen Mediums Sprache nicht standhält. 
Oder: Nicht weil man etwas aufschreiben möchte, füllt man ein Tagebuch – vielmehr schreibt man, weil man ein Tagebuch besitzt. Oder: Nicht weil man etwas bestimmtes hören möchte, schaltet man das Radio ein – vielmehr hört man unbestimmt etwas, weil man das Radio einschaltet. Oder: Nicht weil man den Wunsch hegt, seine Verwandten zu sehen, besucht man sie – vielmehr sieht man seine Verwandten, weil diese zu besuchen sind. Schließlich, um eine modernitätshistorische Dimension der Inversion zu nennen: das Umkippen von Legitimationsverhältnissen im wissenschaftlich-technischen Kapitalismus: „Erst mit der kapitalistischen Produktionsweise kann die Legitimation des institutionellen Rahmens unmittelbar mit dem System der gesellschaftlichen Arbeit verbunden werden. Nun erst kann die Eigentumsordnung aus einem politischen Verhältnis zu einem Produktionsverhältnis werden, weil sie sich an der Rationalität des Marktes, der Ideologie der Tauschgesellschaft, legitimiert und nicht mehr an einer legitimen Herrschaftsordnung. Das Herrschaftssystem kann vielmehr seinerseits an den legitimen Verhältnissen der Produktion gerechtfertigt werden“.[50]

Die „klassisch“ bürgerliche Form einer umgekippten Lebensweltlichkeit findet sich natürlich im Verhältnis von Leben und Arbeit wieder: Nicht mehr wird gearbeitet, um zu leben – vielmehr leben viele Menschen, um zu arbeiten. (Diese invertierte Form wird indes gegenwärtig massenhaft ergänzt durch ein „Arbeiten, um zu überleben“.)[51] Kurzum: Intensität sozialer Beziehung durch Technik meint den Umstand, daß mediale Techniken die kausale, motivationale Quelle für bestimmte Handlungen, Kommunikationen und Verhaltensweisen sozialer Art sind – und zwar so, daß ihre Attraktionen als gesellschaftlich selbstverständlich, als nichthinterfragbar, als institutionalisiert, als „unmittelbar“[52] und unsichtbar erscheinen. 
Nochmals: Diese Behauptung hortet ein gehörig Maß an Widerspruch; denn gerade in technologisch vermittelten sozialen Beziehungen ist der Anteil des Herstellens und der „eigenständigen“ Kontingenzbewältigung hoch, der Anteil an schlichter Übernahme und Befolgung von sowie die Auswahl an Handlungsoptionen gering. Unsichtbare Verbindlichkeit, Lebensführungsanweisungen, Zuhandenheit der soziopsychischen Inklusion, ritualisierte Interfaces der Vergewisserung sozialer Zugehörigkeit und Einheit wurden in der Vergangenheit immer mit einem Abbruch der Reflexion, der Befragbarkeit, mit der Einsichtblockade in die Gemachtheit der sozialen Handlung, durch Tradition und Autorität, durch Gesetz, Angst und Netzwerk-Zwang bewerkstelligt. 
Ein Institutionalismus der Lebenswelt (Arnold Gehlen, Helmut Schelsky) hat sich immer orientiert an der Konventionalität von Identität der Person, der Handlung, der Gruppe – kurz und heideggerianisch: am der Geworfenheit der psychosozialen und sozialorganisatorischen Existenz und Form.


8 Mögliche Intenstitäten durch Kommunikationstechnologie?

Aber: Wie soll man etwa, um ein gegenwärtiges Beispiel aus dem Jahre 2010 zu nehmen, eine negativ-dialektische Beziehung aus der Tatsache ziehen, daß das Unternehmen Facebook in der iPhone-Erscheinungsweise seines Netzangebotes mittels des ‚Schalters’ „Synchronisieren“ sich alle Adressen aus dem jeweiligen iPhone einverleibt (nach dem obligatorischen Bestätigen) und dauerhaft speichert? „Facebook verwende die ausgelesenen Telefonnummern, Namen und E-Mail-Adressen, um mögliche Freunde des Facebook-Mitglieds zu finden, mit denen er auf Facebook noch nicht verbunden ist“ – so wird eine Facebook-Sprecherin im Artikel von Konrad Lischka zitiert[53], die indirekt klarstellt, daß Freundesnetze soziale Waren sind und nur als solche von Interesse für das Unternehmen.[54] 
Oder: Wie soll man eine negativ-dialektische Beziehung aus der Tatsache ziehen, daß – anscheinend unter Druckausübung durch die Facebook-Betreiber – das weltweit größte Onlinespiel, „World of Warcraft“, sich anschickte, Spieler nur noch mit ihrem richtigen Namen, also entanonymisiert und damit als „richtige Adresse“ identifizierbar, am Spiel teilnehmen zu lassen?[55]

Wie kann also, dies zusammengefaßt die leitende Frage, in den technisierten, Sozialität als Warenform aufbereitenden, nicht mehr bewußt reflektierten, sich eher an Standards denn an symbolisch aufschließ- und interpretierbaren Normen orientierten Lebenswelthorizonten dennoch durch Kommunikationstechnologie Intensität sozialer Beziehungen möglich sein?; eine Intensität notabene, die nicht imperativistisch, die nicht affektivistisch, nicht ereignissensationistisch, nicht partikularistisch, nicht diffus, nicht askriptionistisch, sondern „unsichtbar“ und also nicht explizit[56] dafür sorgt, daß eine Sozio-Motivation (als Nachfolge der rational motivierten Orientiertheit des Handelns, Denkens, Erlebens), daß eine „Sozialleidenschaft“ in der Sozialität entsteht – eine Motivation/ Leidenschaft, die weiterhin Bezug hält mindestens zum alten Wertequartett Parsons’, nämlich affective neutrality, universalism, achievement und specifity, also ein Minimum an psychosozialer Modernität zur Voraussetzung hat?


1 Siehe dazu: Der Spiegel, Heft 19/ 2010, p52-57, hier: p53.

2 Bezogen auf das Verhältnis von Technologie und Erinnerung kommt Wolfgang Ernst zu einer ähnlichen Einschätzung, wenn er nachzuweisen sucht, daß sich heute Memorialpolitik vom Speichern zum Übertragen hin verlagert hat (derselbe, Das Gesetz des Gedächtnisses, Berlin 2007); also das Moment des Präsentisch-Machens wichtiger wird als das Präsentisch-Gemachte.

3 Peter Fuchs, Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien: „japanische Kommunikation und „Autismus“, FFM 1995, p33. Weit grundlegender kann der hier zugespitzte und kritisierte Gedanke, daß alle auf digitalem Code basierenden telematischen Artefakte letztlich nur Ebenen der Erscheinung des Bewußtseins sind und also als Exkorporationen des „Geistes“ zu verstehen sind unter Nivellierung der Grenze zwischen „Idee“ (cogito) und „Gegenstand“ (res), bei René Descartes gefunden werden (Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, dt., Hamburg 1976, p21: „Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind nichts als Chimären“); oder auch bei Luhmann (Die Kunst der Gesellschaft, FFM 1995, p21: „Es gibt, anders gesagt, kein Realitätskontinuum, auf dem Umweltsachverhalte ins System überführt werden können“).

4 Verf./ Herbert Neidhöfer, Strategie Camouflage?, in: musikprotokoll im steierischen herbst 1996, Programmheft, hg. v. Österreichischen Rundfunk (Landesstudio Steiermark), Graz 1996, p50-63.

5 Diesen nur kurz skizzierten Veränderungen in den Dimensionen des Realen, Wirklichen, Zeichenhaften und Visualisierten ist Jean Baudrillard in ausführlichster und dichtester Weise nachgegangen (Theorie des „Simulacrums“). Siehe unter anderem die m. E. radikalste Einlassung: ders., Das perfekte Verbrechen, dt. München 1996, z.B. p104-107. Und auch in der Psychoanalyse Lacanscher Prägung (Retroaktion) wie im „Dekonstruktivismus“ nach Derrida (Gegenwart, die niemals Vergangenheit wird, Vergangenheit, die niemals Gegenwart war), letztlich in der Kausalitätszertrümmerung durch die Luhmannsche Systemtheorie findet man diese Umstülpung/ Auflösung des Agens/Emanations-, Ursache/Wirkungs-, des Früher/Später-Prinzips.

6 Siehe dazu Dietmar Kamper, Das Marburger Religionsgespräch zwischen Luther und Zwingli – oder der Bruch in der Wahrnehmung des Heiligen am Ausgang des Mittelalters, in: ders., Zur Geschichte der Einbildungskraft, Reinbek 1990 [zuerst: 1981], p141-160, hier: p141.

7 Die Fassung eines „Sowohl-als-Auch“ hat sich indes als die hegemoniale durchgesetzt, so etwa in folgender Umschreibung zur Feier der Eucharistie: „Indem die Kirche begeht, was Jesus Christus begangen hat, erhält sie Anteil an ihm. Im Modus erinnernden Begehens – auf die Weise einer äußeren perlokutionären, persignifikativen Zeichenhandlung – partizipiert die in der feiernden Versammlung repräsentierte Kirche am Herrn. Auf anamnetische Weise wird sie pneumatisch eingeborgen in das Ursprungsgeschehen selbst. Indem die Kirche pneumatisch hineingenommen ist in das Ursprungsgeschehen, ist dieses zugleich in ihr wirklich gegenwärtig (Aktual- und Realpräsenz). Die Feier der Eucharistie umfasst so Gedächtnis, Vergegenwärtigung und Mitvollzug von Leiden, Tod und Auferstehung des Herrn sowie seiner Vollendung in der Herrlichkeit des Vaters. In der Feier der Eucharistie wird die wirkmächtige Gegenwart des Herrn zum sakramentalen Ereignis; in ihr ist das Pascha-Mysterium sakramental verdichtet.“ Siehe z.B.: http://www.eucharistie-online.de/TheolBedeutung. htm, 28.07.09.

8 Peter Friedrich Stephan, Nicht-Wissen als Ressource sowie sieben Thesen zu künftiger Wissensarbeit, a.a.O., p8.

9 Siehe fürs „Tauschvertrauen“ durch neue Formalsprache Pierre Levy, Internet Economy Meta Languagehttp://www.collectiveintelligence.info/documents/ IEML-v2.pdf (16.06.05).

10 Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, neu aufgelegt im UTB-Verlag, Stuttgart 2000 (zuerst 1968).

11 Siehe die dies problematisierende Abhandlung von Caroline Weinzinger, Vertrauensbildung im Internet (2004), http://socio.ch/intcom/t_weinz.htm (28.07.09).

12 Erste Bemerkungen dazu siehe Verf. (Hg.), „Menschen“ formen Menschenformen. Zum technologischen Umbau der conditio humana, Berlin 2009. Zum gegenwärtigen Stand der Fassungslosigkeit ob des Vertrauensproblems jenseits der Interaktion gibt die Gruppenausstellung „Trust“ (kuratiert von Andreas Broeckmann und Stefan Riekeles) in Dortmund Im Rahmen der 16. ISEA 2010 mehr als deprimierenden Aufschluß – konkurrenziert durch die zeitgleiche Ausstellung „Heavy Matter“ (der Kölner Hochschule für Medien) in Dortmund, in der prinzipiell gegen ‚das Virtuelle’ Stellung bezogen wird.

13 In der sogenannten Bankenkrise, die ihr Coming-out spätestens im September 2008 hatte, wurde in der veröffentlichten Meinung immer wieder dies betont: Daß der Interbankenverkehr zusammenbreche, weil kein Vertrauen mehr in die Solidität der beteiligten Banken bestünde. Vertrauenseinbruch wurde Synonym mit „Kreditklemme“. Siehe zum „weltweit eskalierenden Vertrauensverlust auf den Finanzmärkten“ etwa die Bundestagsrede des damaligen Bundesfinanzministers Peer Steinbrück am 31.01.2009 zur Lage der globalen Finanzmärkte (www.spdfraktion.de/cnt/rs/rs_dok/0,,46178,00.html; 29.07.2009).

14 Von einer Abnahme der Anonymität betreffs der protest-politischen Nutzung des Netzes geht indes Anjana Shrivastava aus (Die Erotik der Masse 2.0, auf: Spiegel online, 27.07.2009): „Durch die neuen Technologien ist die neue Masse, anders als zu Zeiten Canettis, kaum anonym und gesichtslos“. Sie bleibe „auf seltsame Weise kopflos“ – eine der wichtigsten Bedingungen, um den dezentrierten Lebensverhältnissen nachzukommen, auch politisch.

15 Verf., Soziologische Probleme der Globalisierung des Rechts, in: Arbeitsgruppe »menschen formen« (Hg.): Weltgesellschaft, Kontrollgesellschaft, Gesellschaft?, Marburg 2005, p262-281.

16 Harrison C. White, Strategies and Identities by Mobilization Context, in: Soziale Systeme, Heft 2/2002, p231-247, hier: p231.

17 Dietmar Dath, Maschinenwinter..., a.a.O., p71.

18 Derselbe, Das Konkrete und das Abstrakte..., a.a.O.

19 „Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe. Alle Arten der Steigerung der Geschwindigkeit, die wir heute mehr oder minder gezwungen mitmachen, drängen auf Überwindung der Entferntheit. Mit dem ‚Rundfunk’ zum Beispiel vollzieht das Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Ent-fernung der ‚Welt’ auf dem Wege einer Erweiterung und Zerstörung der alltäglichen Umwelt“, so Martin Heidegger im § 23 („Die Räumlichkeit des In-der-Welt-seins“) von Sein und Zeit, Tübingen 151979, p105.

20 Das Stadion (und natürlich Teilbereiche des ‚Zirkus’-Fernsehens) als Aufhetzungsmaschine für mitreißende Masse-Faszination hat gegenüber dem „theatron“ als mentaler Abrüstungsbühne für die Passion eindeutig einen Stellenwert gewonnen, der mehr als beängstigend ist. Siehe dazu auch Hans Peter Weber, Orphisch, Berlin 2009, p35. – An einer passionaren Masse-Faszination versucht sich der US-Photograph Spencer Tunick, der zuletzt 3000 Menschen dazu bringen konnte, sich nackt in einem Fußballstadion photographieren zu lassen; siehe Florian Flicker, Ausziehen für die Kunst, in: Liebing. Zeitschrift für Mode, Film, Musik und Kunst, August 2008, p10-11.

21 Das wäre europaweit und bezogen auf die unterschiedlichen kapitalistischen Regimes der hochtechnologisierten Länder insgesamt natürlich sehr stark zu differenzieren. In der BRD zum Beispiel tritt seit spätestens 2006 die Anomalie auf, gezielt öffentlich hegemoniale Erregungszustände zu inszenieren – als Ausweis, daß Deutsche nun auch wie jedes andere Mitglied einer „Nation“ sich darob „ohne Scham“ freuen dürfen. „Du bist Deutschland“ als zentrale Botschaft dieser „nationalen Party“ weist treffsicher aus, daß auch hier – wieder – eine nachholende Aktion zu besichtigen ist, die allerdings das enorme Ausmaß funktionalen Rassismus und funktionaler Xenophobie in der BRD bisher nicht signifikant erweitert hat.

22 Das Schweigen des Körpers, FFM 1990, p238.

23 Angemessen soll heißen: nicht mehr dem Konzept folgend, nach dem Interaktions- und Intimstrukturen „einfach“ auf sozial nicht mehr wahrnehmbare Großpopulationen übertragen werden („Nächstenliebe“, „Gesinnung“, „Klasse“), sondern dem „Konzept“, daß die I&K-Technologien eigensinnige Nähe- und Inklusionsstrukturen auslegen, die nicht mehr mikrogesellschaftlicher Prägung sind. Damit ist die Hoffnung verbunden, nicht mehr dem psychopolitischen Risiko ausgesetzt zu sein, das alle Versuche eingehen, die die mikrosphärischen Intimstrukturen „zur Norm oder zur Leitikone von Großgemeinschaften“ machen, nämlich: „Wenn Inklusion scheitert, droht den Nicht-Integrierten die Auslöschung“; Peter Sloterdik, Sphären, Bd. I: Blasen, FFM 1998, p630f.

24 Für eine eher technizistische Herleitung dieser Potentialermöglichung siehe Mathias Mertens, Das Ruby-Slippers-Phänomen, in: Wochenzeitung Freitag, Online-Ausgabe, 31.03.2010, http://www.freitag.de/kultur/1013-das-ruby-slippers-phaenomen. Für das mobile Telephonieren etwa meint Mertens: „Im Alltäglichwerden des Hypes versteckt sich die Strukturveränderung, die das Gerät mit sich bringt.“

25 Ernst Bloch, Experimentum mundi. Frage, Kategorien des Hervorbringens, Praxis, FFM 1975, Zitate p263 und 264.

26 Siehe zu dieser Unterscheidung Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, p27. – Noch erscheint es mir unmöglich, diese faschistische Leit- und Leid-Unterscheidung als historisch obsolet werdende zu deuten; maximal die Verrückung/ Verschiebung in einen latenten Zustand, der nur mit großen Mühen in einen manifesten verwandelt werden kann, erscheint mir gegenwärtig realistisch.

27 Derselbe, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, FFM 2005, p248, 268.

28 Beide Zitate siehe Wolfgang Coy, I’m looking through you, you’re not the same!, in: Manfred Faßler (Hg.), Alle möglichen Welten, a.a.O., p29-32, hier: p29f.

29 Peter Kusenberg, WWWiderstand oder digitale Diktatur, in: Konkret, Heft 10/2010, Einlage „literatur konkret“, p4-6, hier: p5.

30 Derselbe, Versenkte Hardware – offene Software. Ausblick in die nächste Computerzukunft, in: Die Politik der Maschine, a.a.O., p407-416, hier: p408.

31 Dieselben, Unser Leben im Netz, in: Zeit Internet Spezial, Teil 1: Wie das Internet unser Leben verändert, 01.05.2008, p4f., hier: p5. Teile 2 und 3 am 08. und 15. 05.2008. Siehe auch, anläßlich des 15.ten Geburtstages, die journalistische Zusammenfassung maßgebender „Innovationen“ des Netzes: spiegel online, Warum wir klicken (http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumgallery/1890/warum_wir_klicken.html; Abruf 01.05.2008).

32 Siehe weitergehender, meines Erachtens indes sich zu systemtheoretisch abstützend, die Studie von Benjamin Jörissen, Beobachtungen der Realität. Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien, Bielefeld 2007.

33 Siehe speziell für das „Kunstsystem“ und dort den Streit (Paragone) um die Hierarchie von Zeichnen/ Malen im Vergleich zur Skulptur betreffend (als Streit um das wahre Zusichkommen der Kunst entweder in der Idee oder in der tatsächlichen Ausführung) Hans Ulrich Reck, Der Streit der Kunstgattungen im Kontext der Entwicklung neuer Medientechnologien, in: ders., Das Bild zeigt das Bild selber als Abwesendes. Zu den Spannungen zwischen Kunst, Medien und visueller Kultur, Wien/ New York 2007, p11-36, hier: p13ff.

34 Siehe generell die ihrerseits in weiten Teilen apodiktische „Realität = Errechnung“-Auffassung des Radikalen Konstruktivismus und der Luhmann’schen Systemtheorie (zur Kritik: Verf., Invasive Introspektion. Fragen an Niklas Luhmanns Systemtheorie, München 1999).

35 So bezogen auf das Verhältnis Photographie versus Realität Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität..., in: Paragrana, Heft 2/1999: Idiosynkrasien, hg. von Dietmar Kamper und Verf., p286-298.

36 Siehe „Die Philosophie des Als Ob“ von Hans Vaihinger, geschrieben 1876-78, zum ersten Mal veröffentlicht 1911 (Neudruck der 9./10. Aufl. 1927, Aalen 1986). Der Untertitel ist sehr barock gehalten: „System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus“.

37 Interview mit Peter Wippermann, Zukunftsforscher und Gründer des Hamburger Trendbüros, unter dem Titel „Das Handy wird zum zweiten Zuhause“ abgedruckt in: mobil. Das Magazin der Deutschen Bahn, Heft 9/ 2009, p48. – Diese Aussage wurde im Zeitraum Juni bis Dezember 2009 durch umfangreiche Plakatierungen von Netzbetreibern/ Handyfirmen flankiert: von ‚Richte Dir Deine eigene Welt ein’, ‚Die ganze Welt an einem Ort’, bis hin zu ‚Unterwegs im Mittendrin’ und ‚Die ganze Welt für Dich’ wurde hier – natürlich – propagandistisch der soziale Zusatzraum im Virtuellen im Handy zu lokalisieren versucht.

38 Man kann hier – freilich zu grob – auch sprechen von der Ausbildung eines neuen bzw. erweiterten gesellschaftlichen Unbewußten, für das Psychoanalyse nur noch strukturell hilfreich ist, so man davon ausgeht, daß Bewußtsein mittlerweile als Unbewußtes der Kommunikation zu statuieren ist.

39 Wie es die gerade 2010 zugenommen habenden Berichte über staatliche Zensur- und Eingriffsmaßnahmen in China, Saudi Arabien, Iran zeigen. Siehe hierzu Evgeny Morozov, The Digital Dictatorship, auf: homepage des Wall Street Journal, 20.02.2010, http://online.wsj.com/article/SB10001424052748703983004575073911147404540.html, Abruf 11.10.2010. Im Entree heißt es: „It’s fashionable to hold up the Internet as the road to democracy and liberty in countries like Iran, but it can also be a very effective tool for quashing freedom“.

40 Siehe etwa die noch im Gestus der Vorsicht, des Einsammelns von Daten angelegte und der Frage nach dem Körper im Netz nachgehende Kurzstudie von Benjamin Jörissen, The Body is the Message. Avatare als visuelle Artikulationen, soziale Aktanten und hybride Akteure, in: Paragrana, Heft 1/ 2008: Medien, Körper, Imagination, p277-295.

41 Derselbe, Horizontwechsel. Die Sonne neu jeden Tag, nichts Neues unter der Sonne, aber..., München 2001, p31.

42 Dieselben, Connected!, FFM 2009, p49.

43 Die Meldung findet sich auf: Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), http://www.bvdw.org/medien/nielsen-studie-social-communities?media=1793, 18.04.2010. Untersucht wurden die Länder Italien, Australien, USA, England, Spanien, Brasilien, Frankreich, BRD, Schweiz und Japan.

44 Studienergebnisse zu finden auf: http://pewresearch.org/pubs/1572/teens-cell-phones-text-messages (02.05.2010). Interessant ist, daß bei der Frage nach den verschiedenen Weisen, wie 12 bis 17jährige Teenager Kontakt mit ihren Freunden halten, das „Talk face-to-face“ nur noch die dritthäufigste Art darstellt.

45 Das kann man an mittlerweile weitverbreiteten Aussagen zum social web festmachen, die ebendieses als sozial nicht ernstzunehmendes Netz beschreiben („Wir können ja Facebook-Freunde bleiben“; Tina Manske in: Titanic, Heft 5/2010, p42).

46 Nochmals: Robert Pfaller (Hg.), Interpassivität..., a.a.O. In der Mobilfunkwerbung hingegen steht weiterhin das Starkmachen einer möglichen Interaktivität zwischen Mensch und Gerät im Vordergrund: „Dein Handy stellt sich auf Dich ein“ – so der Werbespruch von HTC Desire (Rahmenreklame auf: spiegel online, 03.05.2010).

47 Für Luhmann stellt dies Umkippen eine unter vielen Bedingungen dar, damit sich überhaupt eine Eigendynamik für Systembildung bilden kann; Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität (1962), in: derselbe, Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Bd.1, Opladen 61991, p9-30.

48 Als Fundus für diese Ver-sionen bietet sich weiterhin an: Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O.; Theodor W. Adorno/ Max Horkheimer, Die Dialektik der Aufklärung, FFM 1990; Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels. Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, dt., Berlin 1996.

49 Siehe Christoph Wulf/ Jörg Zirfaß (Hg.), Rituelle Welten. Heft 1 und 2 der Zeitschrift Paragrana, Bd.12/ 2003; darin: Günter Thomas, Der gefesselte Blick. Körper, Raum und Präsenz im Medienritual, p599-620.

50 Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’, in: derselbe, dito, FFM 1969, p48-103, hier: p70.

51 Siehe im größeren Überblick Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, dt., Konstanz 2000.

52 D.h. im klassischen marxistischen Sinne: die elektronische Infrastruktur der Kommunikation ist so hochverdichtet vermittelt, daß sie umspringt und als scheinbar unvermittelte, als gegebene, als „natürliche“ erscheint. Diese „falsche Unmittelbarkeit oder abstrakte Konkretheit, in der die realiter als ein bloßes Durchgangsmoment fest in den kapitalen Selbstverwertungsprozess eingebundenen Erscheinungen phänomenaliter sich vielmehr präsentieren“, ist für die kapitalistische Modernisierung von Gesellschaft typisch. Siehe Ulrich Enderwitz, Der Ideologiekritiker Adorno und seine Grenzen, auf: http://www.trend.infopartisan.net/trd1207/t401207.html (03.05.2010).

53 Konrad Lischka, Wie Facebook private Telephonbücher abgreift, auf: Spiegel online, Zugriff 31.05.2010 (http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,697733,00.html).

54 Die einzige mir bisher bekannte, eher „positive“ Form, wie aus sozialen Beziehungen als solche Geld zu machen ist, beschreiben Nicholas A. Christakis und James H. Fowler in ihrem Buch „Connected! Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckend ist“ (dt., FFM 2010, p219-224) am Beispiel der Mikrokredite der indischen Grameen Bank, gegründet von Muhammad Yunus, der dafür 2006 den Nobelpreis erhielt. Siehe dagegen zum Stand betriebsorganisationssoziologischer Implementierung von „Communities“ Richard McDermott/ Douglas Archibald, Communities of Practice. Die Kraft informeller Netzwerke, auf: Harvard Business Manager (Heft 8/2010), online unter http://www.harvardbusinessmanager.de/heft/artikel/a-709654.html, sieben Artikelteile, gesichtet 15.10.2010; hier geht es mittlerweile darum, wie „das Informelle“ von Gemeinschaften betriebsökonomisch in eine „strategische Planung“ überführt werden kann.

55 Christian Stöcker, Klarnamenszwang bei „World of Warcraft“: Wie Facebook die Sitten verdirbt, auf: Spiegel online,

www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,705406,00.html, 08.07.2010. Das WoW-Unternehmen Blizzard nahm die Ankündigung dann beinahe unverzüglich wieder zurück.

56 Mir ist bewußt, daß die Ansicht, das Sichtbare sei nicht alles, eine tiefe Überzeugung des Religiösen ist. Gleichsam hat die hier adressierte Unsichtbarkeit keine religiösen Konnotate, sondern ist eher einer systemtheoretischen und transkognitionstheoretischen Auffassung geschuldet (Umwelt ist immer komplexer als Systeme; nicht-abstrahierbare und nicht-reindividualisierbare Erfahrungen des Sozialen).

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